Post mortem. Amalia ZeichnerinЧитать онлайн книгу.
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Kapitel 3 – CLARENCE
»Hoffentlich finden wir einen Hinweis auf ihre Angehörigen«, sagte Clarence zu seiner Frau, als sie sich noch am selben Tag gemeinsam zur Vauxhall Bridge Road aufmachten. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, in der Wohnung einer Fremden herumzustöbern, andererseits wollte er Doktor Tyner unterstützen, und Mabel war ja eigens von diesem beauftragt worden. Mittlerweile war es längst dunkel und es regnete noch immer. Mabel hatte ihm erzählt, was sie gemeinsam mit dem Coroner herausgefunden hatte.
»Also ist es möglich, dass sie vergiftet wurde?«, fragte er, während er, auf seinen Gehstock gestützt, einer Pfütze auf dem Gehweg auswich, die im Schein einer Gaslaterne dunkel glänzte.
»Ja, leider. Doktor Tyner wird die Pralinen und Miss Westrays Leichnam noch genauer untersuchen«, erwiderte Mabel, die fast unter ihrem aufgespannten Regenschirm verschwand. »Was für ein Mensch tut so etwas?«, sagte sie leise.
»Wir wissen doch beide nicht allzu viel über Miss Westray«, erinnerte er sie. »Und auch nicht, mit wem sie Umgang pflegte. Aber ich muss zugeben, du kanntest sie besser als ich.«
Mabels Stimme klang ein wenig heiser, als sie ihm antwortete. »Das vielleicht, doch es war eher eine oberflächliche Bekanntschaft.«
Sie wanderten die Clarendon Street hinauf. Etwas später passierten sie den Warwick Square, eine umzäunte, rechteckige Grünfläche, der mehrere aneinandergereihte, vierstöckige Wohnhäuser gegenüberstanden, wie man sie in vielen Straßen dieses Stadtteils fand. Diese verfügten jeweils über einen kleinen Portikus mit Säulen, der am oberen Ende in einen Balkon überging – ein Privileg, über das nur Bewohner der ersten Etage verfügten, während die oberen Stockwerke ohne einen solchen Luxus auskommen mussten.
Einige Gaslaternen sorgten für etwas Licht. In ihrem Schein glänzte der Regen – winzige, golden leuchtende Fäden, die leicht schräg zu Boden stürzten.
Einzelne Passanten kamen ihnen entgegen, hasteten vorbei. So wie in London die meisten Leute stets in Eile waren, außer die Spaziergänger in den Parks, die gemächlich schlenderten. Sicherlich waren sie froh, nach ihrem Tagwerk bald heimzukehren und dort den Kamin einzuheizen. Oder vielleicht in einen der zahlreichen Pubs einzukehren, wie Clarence selbst regelmäßig ein Lokal in der Moreton Street aufsuchte.
Sein Gehstock machte das übliche, gleichmäßige »Tock, tock« auf der Straße und wie schon so oft streiften ihn mitleidige Blicke. Eigentlich hatte er rund zwanzig Jahre lang Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, aber er hasste es dennoch, wenn Leute ihn so ansahen. Seine Gedanken wandten sich wieder der Verstorbenen zu. Ob sie in deren Wohnung wohl die Adresse ihrer Verwandten finden würden?
Die lang gezogene, breite Vauxhall Bridge Road zerschnitt den nördlichen Teil Pimlicos von Nordwesten bis Südosten und endete an der Vauxhall Bridge, die über die Themse führte. Miss Westrays Wohnung befand sich in einem mehrstöckigen Backsteinhaus auf der nördlichen Seite der Straße, wie sie bald anhand der Hausnummer herausfanden.
»Passt einer der beiden Schlüssel?«, fragte Mabel.
Clarence steckte den ersten in das Schloss der Haustür. Er schüttelte den Kopf. Also den anderen. Der ließ sich anstandslos drehen. »Nach dir, meine Liebe«, sagte er und hielt seiner Frau die Tür auf, wie es sich für einen Gentleman ziemte.
Nun standen sie in einem dunklen Flur, in dem es ein wenig muffig und nach gekochtem Kohl roch. Clarence lauschte. Aus einer Wohnung im Erdgeschoss drang leises Weinen – ein Kind. Dann eine undeutliche Stimme, die offenbar auf es einredete.
»Fragen wir doch einfach, wo Miss Westray gewohnt hat«, schlug Mabel vor.
»Nein, lieber nicht«, entgegnete Clarence. »Sonst müssen wir ihren Nachbarn erklären, was wir hier tun, und das wäre mir sehr unangenehm.«
Mabel verzog das Gesicht. »Aber das Haus hat vier Stockwerke. Wir können doch nicht bei jeder Wohnung einfach den Schlüssel ausprobieren.«
Wo sie recht hat, hat sie recht. Er zögerte einen Moment lang, aber ihm wollte nichts Besseres einfallen. »Auch wieder wahr«, stimmte er ihr schließlich zu. »Dann hoffe ich auf verständnisvolle Nachbarn.« Clarence klopfte an der Tür, hinter der das weinende Kind verstummt war.
Eine Frau mit einer geblümten Schürze öffnete ihnen. Sie hielt das Kleinkind auf dem Arm. Im Halbdunkel des Wohnungsflures war ihr Gesicht nur schwer zu erkennen. »Ich kaufe nichts«, sagte sie unwirsch. »Und wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?«
»Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Clarence Fox und das ist meine Frau Mabel. Ihre Nachbarin, Miss Westray, ist mit uns bekannt.« Er räusperte sich. »Sie ist heute tragischerweise bei einem Unfall aus dem Leben geschieden.«
»Oh. Das tut mir leid!«, sagte die Frau, nun etwas freundlicher.
Hoffentlich würde sie ihnen nun keine Steine in den Weg legen oder darauf pochen, den Vermieter zu holen. »Sehen Sie, es ist so«, beeilte er sich zu erklären, »der Coroner schickt uns, damit wir in Miss Westrays Wohnung nach Hinweisen auf ihre Angehörigen suchen können. Er selbst ist gerade zu sehr beschäftigt, um sich darum zu kümmern.«
»Wir haben auch ein Schreiben von ihm, falls Sie das sehen möchten. Den Haustürschlüssel und den Wohnungsschlüssel haben wir aus Miss Westrays Handtasche.«
»Warten Sie kurz«, erwiderte die Frau und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.
Clarence sah Mabel fragend an. Was das wohl werden würde? Sie zuckte nur leicht mit den Schultern und setzte eine gleichmütige Miene auf. Schweigend warteten sie beide. Hoffentlich konnten sie das alles hier schnell über die Bühne bringen.
Es dauerte einige Minuten, ehe die Nachbarin von Miss Westray ihnen wieder öffnete, diesmal ohne das Kind im Arm, stattdessen mit einer brennenden Kerze in der Hand, die sich in einem bauchigen, tönernen Halter mit Henkel befand. In diesem Licht war ihr Gesicht nun deutlicher zu sehen. Die Frau machte einen verhärmten Eindruck, hatte dunkle Ringe unter den Augen und ihre Frisur war zerzaust.
»Lassen Sie mich einmal dieses Schreiben von dem Coroner sehen«, verlangte sie.
Das war ihr gutes Recht. Clarence hätte nicht anders reagiert, wenn Fremde in seinem Wohnhaus aufgetaucht wären und ihm eine solche Geschichte aufgetischt hätten. Er griff in die Brusttasche seines Mantels und faltete den Bogen auseinander, ehe er ihn der Frau reichte. Das Schreiben trug einen deutlich sichtbaren Stempel der Metropolitan Police.
Miss Westrays Nachbarin überflog den Brief. »Ja, also … wenn das so ist, dann …«, sagte sie schließlich. »Aber ich frage mich, ob wir nicht erst den Vermieter rufen sollten.«
Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. »Ich würde vorschlagen, meine Frau und ich kümmern uns nun erst einmal schnellstmöglich darum, die Angehörigen der Verstorbenen zu verständigen. Diese wiederum können dann alles Weitere mit dem Vermieter klären.«
Die Frau runzelte die Stirn, zögerte zunächst und blickte forschend erst zu Mabel und dann zu ihm. »Wenn Sie meinen. Von mir aus. Miss Westray wohnt – ich meine, sie wohnte – im dritten Stock. Die zweite Tür links.«
»In Ordnung, haben Sie vielen Dank. Einen schönen Abend noch.« Clarence tippte grüßend an seinen Zylinder.
An der zweiten Tür links im dritten Stock befand sich weder ein Namensschild noch eine Türnummer. Clarence warf einen Blick auf die beiden Schlüssel und probierte denjenigen aus, der nicht in das Schloss der Haustür gepasst hatte. Tatsächlich öffnete sich die Wohnungstür. Gut so. Hoffentlich finden wir bald das, was wir suchen.
In Miss Westrays dunklem Wohnungsflur entzündete Mabel eine Öllampe, nachdem sie in deren Nähe eine Schachtel Streichhölzer gefunden hatte. Ein leichter Geruch nach Kernseife hing in der Luft. Die mit einem schlichten floralen Muster bedeckte Tapete in der kleinen Einzimmerwohnung