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Eine illegitime Kunst. Pierre BourdieuЧитать онлайн книгу.

Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu


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dann zweifellos deshalb, weil hier die engagierten Amateure in ihrer Umgebung für ihren Eifer Unterstützung finden; in der Tat geht es ihnen hauptsächlich darum, zu dokumentieren, daß sie sich mit einer, wie sie meinen, allzu platten Praxis nicht zufriedengeben mögen. Im übrigen jedoch sind diese »Ästheten«, deren ästhetische Intentionen sich insbesondere bei den weniger Gebildeten auf die Negation der gängigen Normen beschränken, die die legitimen Gegenstände der Photographie definieren, angetrieben von der Hoffnung auf ein neues Normensystem, das ihnen die beruhigende Sicherheit zurückgeben könnte, deren sie sich durch ihren Bruch mit der gemeinsamen Tradition begeben haben. Es drückt sich in der Mitgliedschaft einer Sekte, die den Initiierten eine neue Geborgenheit und neue Regeln verspricht, wahrscheinlich die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer integrierten Gruppe aus, einer Gruppe, die diese Sehnsucht in ihr Gegenteil verkehrt, indem sie sich über die Negation gemeinsamer Regeln konstituiert.46

       Klassenunterschiede und sich bewußt unterscheidende Klasse

      Mithin ist das Verhältnis der Photoamateure – vor allem der ambitioniertesten – zur Photographie niemals unabhängig von ihrem Verhältnis zu ihrer Gruppe (oder, wenn man so will, vom Grad ihrer Integration in die Gruppe) und von ihrem Verhältnis zur modalen Praxis ihrer Gruppe (in dem ihre Lage innerhalb der Gruppe zum Ausdruck kommt), die ihrerseits eine Funktion der Bedeutung und des Platzes ist, die der Photographie von der Gruppe zugewiesen werden. Diese Zuordnung hängt einerseits von dem gruppenspezifischen System impliziter Werte sowie der Position der Photographie innerhalb des Systems der schönen Künste ab (die sich mit der Lage der Gruppe gegenüber diesem System ändert), andererseits von der Bedeutung und dem Platz, die die anderen Gruppen aufgrund derselben Logik der Photographie zuschreiben.

      Und schließlich ist die – technisch wie ökonomisch – extrem leichte Zugänglichkeit des Mediums zu berücksichtigen. In der Tat unterscheidet sich das Photographieren ebenso von solchen Tätigkeiten, die zwar kostspielig sind, aber keinerlei intellektueller Vorbereitung bedürfen (z.B. der Tourismus), wie von den zwar erschwinglichen, aber nur jenem Personenkreis vorbehaltenen Beschäftigungen, der über bestimmte Grundkenntnisse verfügt (z.B. dem Besuch von Museen). Anders gesagt, nichts ist weniger esoterisch als das Photographieren, da es genügend preiswerte Kameras mit geringem Bedienungsaufwand gibt, und da die Neigung (und nicht lediglich die Befähigung) zu deren Gebrauch nicht das Ergebnis einer praktischen oder theoretischen Bildung ist. Daraus folgt, daß die Bedeutung, die dieser leicht zugänglichen Praxis verliehen wird, mitkonstituiert ist durch den – vorwiegend – negativen Vergleich mit der üblichen Praxis. Die verschiedenen Gruppen einer geschichteten Gesellschaft können die photographische Praxis unterschiedlichen Normen unterwerfen, welche zumindest darin übereinstimmen, daß sie (in je besonderer Weise) von jener Norm abweichen, welche die gängige Praxis reguliert. Das ist der Grund, warum die Photographie ein aufschlußreiches Beispiel für die Logik der Bemühung um Andersartigkeit um der Andersartigkeit willen ist oder, wenn man so will, für die Logik eines Snobismus, der kulturelle Tätigkeiten nicht an sich und für sich wahrnimmt, sondern einzig in und aufgrund einer Beziehung mit den Gruppen, die ihnen nachgehen. Dieser Differenzierungsmechanismus veranlaßt einen Teil der Angehörigen der Mittelschichten dazu, Originalität in der engagierten Beschäftigung mit einer Photographie zu suchen, die ihrer familialen Zwecksetzungen entkleidet ist, während er einen Teil der Angehörigen der Oberschicht von diesem Engagement abhält, dem das Odium des Gewöhnlichen anhaftet, weil es weit verbreitet ist.

      Die bäuerliche Gesellschaft ist genügend stark integriert und ihrer Werte hinreichend sicher, um bei ihren Mitgliedern das Gebot der Konformität durchzusetzen und jeden Versuch zu vereiteln, sich durch Nachahmung der Leute in der Stadt von den anderen Mitgliedern ihrer Gesellschaft zu unterscheiden. Somit können weder die ökonomischen Hemmnisse, etwa die hohen Kosten der Ausrüstung, noch die technischen Hindernisse erklären, warum das Photographieren im bäuerlichen Milieu eher die Ausnahme ist.47 Die Bauern nutzen die Photographie lediglich als Konsumenten, noch dazu in selektiver Weise, und sie können auch gar nicht anders, weil das System der Werte, an denen sie teilhaben und die um ein bestimmtes Bild vom »typischen« Bauern angeordnet sind, ihnen untersagt, selbst zu photographieren und sich so mit den Städtern zu identifizieren.

      Die Photographie erscheint hier als Luxus. Das bäuerliche Ethos macht es zur Pflicht, Geld zunächst in die Vergrößerung des ererbten Besitzes oder zur Erneuerung des landwirtschaftlichen Geräts und erst dann in Verbrauchsgüter zu investieren. Mehr noch: Jede Neuerung ist suspekt in den Augen der Gruppe, und zwar nicht nur als Absage an die Tradition, sondern vor allem deshalb, weil hinter ihr die Absicht, sich zu unterscheiden, sich von den anderen abzuheben, die anderen zu beeindrucken oder auszustechen, vermutet wird. Diese Prinzipientreue beherrscht die gesamte gesellschaftliche Existenz und hat mit Egalitarismus nichts zu tun. Im Grunde haben Ironisierung, Spott und Dorfklatsch den Zweck, den Aufschneider oder den Prahlhans, der mit seinem Versuch, Neuerungen einzuführen, anscheinend der ganzen Gemeinde eine Lektion erteilen oder sie herausfordern möchte, zur Räson zu bringen, d.h. zu Konformität und Gleichförmigkeit anzuhalten. Ob er diesen Vorsatz tatsächlich hegt oder nicht, der Verdacht bleibt auf ihm sitzen. Unter Rekurs auf die Erfahrungen der Vergangenheit und indem man alle anderen Gruppenmitglieder als Zeugen anruft, soll öffentlich bekräftigt werden, daß die Neuerung keinem wirklichen Bedürfnis entspringt.

      Die kollektive Mißbilligung weist jedoch je nach Art der Innovation und dem Bereich, in dem sie auftritt, feine Nuancen auf. Betrifft sie den Bestand der landwirtschaftlichen Techniken und Anbauweisen, so wird niemals vollständig und schonungslos verworfen, da man dem Neuerer den Rechtsvorteil des Zweifels einräumt: Sein Verhalten könnte ja, gegen den Anschein, einer höchst lobenswerten Absicht entspringen, nämlich dem Wunsch, den Wert des ererbten Besitzes zu erhöhen – er handelt dann zwar gegen die bäuerliche Tradition, aber er handelt als Bauer. Auch kann sich die moralische Verurteilung in die Sprache der Skepsis des Technikers und des »Mannes von Erfahrung« kleiden: Die Strafe wird aus dem Gang der Dinge selbst folgen. Da der Neuerer das Risiko auf sich nimmt, einen Fehlschlag zu erleiden und sich lächerlich zu machen, verdient er immerhin Respekt.

      Allerdings empfindet die Gemeinde jede Neuerung, von der sie argwöhnt, daß sie der rationalen oder plausiblen Rechtfertigung entbehre, als Provokation oder Ketzerei. Tatsächlich zwingt ein großtuerisches oder als solches gedeutetes Verhalten ähnlich wie ein Geschenk, das jedes Gegengeschenk ausschließt, die Gruppe in die Lage der Unterlegenheit und kann nur als Affront erlebt werden, der ihre Selbstachtung verletzt. In diesem Fall erfolgt die Sanktion unverzüglich: »Was der sich einbildet!« »Für wen hält er sich?«

      Die Mißbilligung ist indes nicht bloß abhängig von der Art der Neuerung, sondern auch von der Situation und dem Status des Neuerers. Da man sie mit dem Leben in der Stadt in Verbindung bringt, vermutet man in der Photographie die Imitation städtischer Gewohnheiten. Sie wirkt als Ausdruck der Lossagung – als Gestus des Parvenüs. Ihn sieht man so, wie der Landmann die »Urlauber« sieht, d.h. die abgewanderten Dorfbewohner, die im Sommer zurückkehren, um hier ihre Ferien zu verbringen. Noch die beiläufigste ihrer Handlungen wird zum Gegenstand von Kommentaren, und selbst ein geringfügiger Verstoß gegen die Bräuche wird ihnen als Dünkel und Provokation ausgelegt:

      »Im allgemeinen hat man die Amateurphotographen scheel angesehen. Dazu muß man sagen, daß der Eindruck entstand, als würden sie sich über die Bauern lustig machen, die mitten bei der Arbeit waren. Und überhaupt, die waren ja bloß zum Urlaub hier ...«

      »M.F. hat Photos gemacht und wollte mich dauernd aufnehmen. Das war vielleicht ein Zirkus! [...] Ich habe sie abblitzen lassen, weil ich Angst hatte, daß die anderen sich über mich lustig machen würden. Ich habe mich geniert, weil meine Mutter gesagt hat: ›Sie spielt sich auf, sie kommt nur von Paris, um hier anzugeben.‹ In Paris leben, mit einer jämmerlichen Stelle, nichts zu beißen haben, aber mit einem Photoapparat ankommen! [...] Damit hatte die jedes Maß verloren. Sie wollte immer Familienbilder machen, aber meine Mutter ging gar nicht darauf ein: ›Das ist alles Angeberei. Sie kommt mit ihrem Apparat an, um aufzufallen, damit alle Welt weiß, daß sie in Paris ist‹, usw. Man darf eben nicht aus der Reihe tanzen und auffallen.«

      Die Beschäftigung mit der Photographie wird gerade dort vehement


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