Der kleine Fürst Staffel 12 – Adelsroman. Viola MaybachЧитать онлайн книгу.
Sie sah sich um, Baron Edgar war über den Schreibtisch gesunken. Er preßte die Hand aufs Herz.
»Schnell, einen Arzt. Mein Herz, es ist, als ob eine Riesenfaust es zusammenpreßt. Ich sterbe.«
Marion eilte ans Telefon und wählte den Notruf. Sie half ihrem Onkel, sich in den Bürosessel zu setzen, und öffnete ihm den Hemdkragen. Baron Edgar war bleich und röchelte. Bald hörte man die Sirene. Mit flackerndem Blaulicht raste der Krankenwagen heran und bremste vor der Villa. Zwei Sanitäter und der Notarzt eilten ins Haus.
»Herzinfarkt«, sagte der Notarzt, während die Sanitäter den Baron auf die Trage betteten. »Herr von Balsingen muß sofort auf die Intensivstation.«
»Wird er es überleben?«
»Sieben von zehn Infarktpatienten, die schnell ärztliche Hilfe erhalten, überleben. Wollen Sie mitfahren, Baronesse?«
»Nein«, antwortete Marion entschieden.
Sie sah zu, wie der Krankenwagen wegfuhr. Sie würde für ihren Onkel zusammenpacken, was er benötigte, und es ihm ins Krankenhaus bringen. Und das war das letzte, was sie für ihn tun würde. Wenn Baron Edgar aus der Klinik zurückkehrte, würde Marion nicht mehr da sein.
Falls er starb, würde es seine Nichte wenig berühren. Marion wollte nichts mehr von ihm wissen.
Nach der ganzen Aufregung ging sie auf ihr Zimmer. Dort saß sie und sah aus dem Fenster in den Garten der Villa. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt. In ihr war alles tot und leer.
Das erste Klopfen überhörte sie. Dann klopfte es wieder.
»Herein.«
Alexander Karben trat ein. Er wirkte verlegen.
»Ich will mich nicht aufdrängen, Marion, aber ich habe das Gefühl, daß du mich jetzt brauchst. Ich habe den Krankenwagen gesehen. Die Haustür war offen, da bin ich hereingekommen. Was ist mit Baron Edgar passiert?«
»Er erlitt einen Herzinfarkt.«
Zum ersten Mal blickte Marion den Schauspieler unbefangen an. Gunter war nicht mehr der einzige Mann für sie auf der Welt. Alexander war sehr attraktiv und hatte Gefühl und Herzenswärme. Es war noch zu früh, als daß Marion mehr als Zuneigung für ihn hätte empfinden können. Sie schickte ihn jedoch nicht weg. Denn sie brauchte einen Menschen, bei dem sie ihren Kummer loswerden konnte. Und wer wäre da besser geeignet gewesen, als ein Mann, der sie mit allen Fasern seines Herzens liebte?
*
Als an einem strahlenden Sommertag, einige Wochen später, die glanzvolle Hochzeit von Fürst Gunter mit Sandra stattfand, gab es keinen, der Einwände erhoben hätte. Ganz gewiß nicht die Fürstinmutter Claudia, die täglich mehr vernarrt war in ihre Enkelin.
Unter den Hochzeitsgästen waren auch Baronesse Marion von Balsingen und Alexander Karben. Der sensible Alexander hatte es verstanden, Marions Wunde zu heilen. Nun leuchteten auch ihre Augen wieder, und sie schmiegte sich eng an den Mann, der für sie Halt und Heimat bedeutete. Es ließ sich leicht voraussagen, daß das Paar einmal inniger verbunden sein würde, als das jemals der Fall hätte sein können, wäre Marion Gunters Frau geworden.
Denn Gunters Liebe gehörte nur seiner Sandra – und dem kleinen Prinzeßchen.
Verena Königshofer hob trotzig das Kinn. Die alte Verena, das alte Leben lag hinter ihr. Jawohl! So konnte es ja nicht weitergehen!
Erst letzte Woche hatte sie in einer Bäckerei gestanden und eine Entschuldigung gestammelt, weil ihr die unkonzentrierte Verkäuferin an der Theke nur zwei statt der bestellten drei Brötchen gegeben hatte. Dabei hatte sie, Verena laut und deutlich gesprochen! Als sie den Irrtum der Angestellten bemerkte, wiederholte sie ihre Bestellung: »Ich wollte drei Stück, entschuldigen Sie bitte.« Worauf die Verkäuferin noch ein Brötchen dazu legte und huldvoll nickte. Als läge die Schuld – natürlich! – bei Verena!
»So eine war ich bis jetzt«, dachte die junge Frau. »Lange genug. Ab jetzt ist alles anders!«
Alles anders, das war zumindest äußerlich so. Wie zur Bestätigung fuhr sie mit der Hand durch ihre neuerdings stoppelkurze Frisur. Vorgestern war ihr das Haar noch in schweren Wellen über den Rücken gefallen. Es war so schön gewesen, ein Ausdruck von Wärme und Freundlichkeit, was auch genau Verenas Wesen untermalte. Wie viele Komplimente sie für ihre Haare bekommen hatte! Ja, sie hatte heimlich ein bisschen geweint, als die Locken auf dem Boden des Friseursalons gelandet waren, aber nicht nur wegen der verlorenen Schönheit. Sie hatte überhaupt viel geweint in diesen letzten Tagen. Aber auch damit war jetzt Schluss. Und erstaunlicherweise sah die neue Frisur sogar gut aus. Die kurzen aschblonden Fransen fielen fröhlich in die Stirn und betonten Verenas hellblaue Augen, in denen sich an diesem Morgen die Wiener Frühlingssonne spiegelte.
Laut rumpelte der Koffer über das Kopfsteinpflaster, als sich Verena ihren Weg vom Taxi zu der alten Backsteinvilla suchte. Sie sah sich um. Eigentlich der perfekte Ort für einen Neubeginn!
Klar, versprach ihre neue Aufgabe als Gesellschafterin einer alten Dame nicht gerade einen Karrieresprung. Ihre eigenen Eltern waren ihr ein Beispiel dafür, was es hieß, Hausangestellte zu sein. In der Villa des Fernsehproduzenten Grünbach arbeitete Verenas Mutter als Haushälterin und Mädchen für alles. Verenas Vater war der Hausmeister, der um vier Uhr früh aus dem Bett geläutet wurde, um ein Fenster zu schließen oder die Heizung einzuschalten. Schon als kleines Mädchen hatte sich Verena geschworen, etwas Besseres aus ihrem Leben zu machen. Nun, das war, bevor sie sich in den Sohn der Grünbachs verliebt hatte und mit ihm zusammenzog. Dass sie im Verlauf der Beziehung mit Bernd nur eine andere Art der Dienstbotin geworden war, bemerkte sie erst kürzlich. Hätte Bernd sie nicht betrogen, würde sie wahrscheinlich heute noch in Hamburg wohnen, im Poolhaus der Familie Grünbach.
Ob sie nun nicht erst recht in die Fußstapfen ihrer Eltern trat? Gesellschafterin – wie altmodisch sich das schon anhörte, das klang ja wie aus einem englischen Roman des 18. Jahrhunderts! Doch es sollte ja nur vorübergehend sein, denn eigentlich war sie nach Wien gekommen, um endlich ihren Traum zu leben und Malerin zu werden!
Die Straße in Sievering war von hohen, blühenden Kastanienbäumen gesäumt. Wie zur Begrüßung wehte ein sanftes Lüftchen eine der zartrosa Blüten gegen Verenas Wange. Als wollte die Stadt ihr zuflüstern: Willkommen in Wien! Willkommen in einem neuen Leben.
»Na dann los, ich bin bereit«, murmelte Verena und drückte auf die Messingklingel an der verschnörkelten Gartentür. Hinter dem schmiedeeisernen Zaun lag ein kleiner Garten mit blühenden Fliederbüschen und wild wachsenden Tulpen. Ein paar Knorrige Obstbäume standen inmitten eines Teppichs von Gänseblümchen. Das Haus lag etwas versetzt im hinteren Teil des Gartens, schwere Efeuranken wucherten an den roten Steinen empor. Verenas Blick wanderte zum Dach hinauf. Ein schwungvoller Giebel legte sich über moderne Fensterscheiben. Augenscheinlich waren sie frisch geputzt. Die dunkelgrünen Läden vor den Fenstern der unteren Stockwerke sahen jedoch so aus, als könnten sie einen frischen Anstrich gebrauchen. Alles zusammen sah es hier ein bisschen verwunschen aus, fand Verena, und sie hoffte bloß, dass im Inneren des Hauses nicht eine Hexe auf sie wartete.
Die Stimme aus der Sprechanlage allerdings klang ziemlich menschlich, und als Verena auf einer Steinsäule neben dem Hauseingang in das Auge einer Überwachungskamera blickte, erkannte die junge Frau, dass das moderne Leben hier nur hinter einer altmodischen Fassade verborgen lag.
Der Lautsprecher gab ein knatterndes Geräusch von sich, die Tür, von einem Surren gebeutelt, sprang auf. Einen Augenblick lang spürte Verena einen stechenden Zweifel an ihrer Entscheidung. Ob es richtig gewesen war, alles aufzugeben, ihr Zuhause zu verlassen?
Ja. Es war Zeit, höchste Zeit ein eigenes Leben zu beginnen! Bernd war Vergangenheit. Eine schmerzliche, unglückliche und im Rückblick manchmal auch wunderschöne Vergangenheit. Das hier war das Jetzt. Ihre neue Freiheit wartete auf sie!
*