Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
deutete auf die grüne Reisetasche in der Ecke. Grün wie die Hoffnung.
»Alles fertig.«
Er ging hinüber zu den Schränken, öffnete einen nach dem anderen, wie er es von seinen Eltern gelernt hatte.
Seit seine Zwillingsschwester Désie nach zweihundert Kilometern Fahrt festgestellt hatte, dass sie ihr Lieblingskuscheltier im Urlaubsbett vergessen hatte, gab es eine Regel in der Familie Norden. Am Ende des Urlaubs wurden noch einmal alle Schränke und Schubladen durchsucht, unter den Betten nachgesehen.
Felicitas sah ihrem Sohn mit offenem Mund zu.
»Was machst du denn da?«
»Hast du auch wirklich nichts vergessen?«
»Ich glaube nicht.«
Jan zog die Nachttischschublade auf.
»Und was ist das?« Triumphierend hielt er ein kleines Kästchen hoch, kaum größer als eine Streichholzschachtel. Ein Kabel mit Kopfhörern baumelte daran.
Fee suchte in ihrem Gedächtnis, konnte aber nichts finden. Es war frustrierend! Ein dunkles Tuch legte sich über ihr Gemüt.
»Bist du sicher, dass das mir gehört?«
»Ja, aber das kannst du ausnahmsweise einmal wirklich nicht wissen.« Jan hatte selbst vergessen, dass er den MP3-Spieler mit Fees derzeitiger Lieblingsmusik mit in die Klinik gebracht hatte. Doch seine Mutter hatte geschlafen, und so war das kleine Gerät in der Schublade verschwunden. »Vielleicht hilft dir die Musik, dein Gedächtnis wiederzufinden.«
Felicitas nahm ihm den Spieler aus der Hand und steckte ihn in die Tasche ihrer Strickjacke.
»Zuerst fahren wir nach Hause. Wenn das nicht hilft, kann ich das mit der Musik immer noch ausprobieren.« Sie stand auf und schlang die Jacke eng um sich. Obwohl es warm im Zimmer war, fröstelte sie. Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
*
Am Tresen herrschte reger Betrieb. Ein Geräuschteppich aus Stimmengewirr, Telefonklingeln und Fußgetrappel erfüllte die Luft. Die Aufzugtüren öffneten sich. Eine Frau trat heraus und sah sich um.
»Unternehmerin!«, tippte Josefa, eine der beiden Lästerschwestern, die am Tresen auf ein Rezept wartete.
»Quatsch. Höchstens Chefsekretärin«, urteilte ihre Freundin Astrid.
Daniel Norden hob den Kopf. Er stand hinter dem Tresen mit Schwester Elena zusammen und unterhielt sich leise über den Notfall, den er vorhin operiert hatte.
»Keine Kommentare über Patienten und ihre Angehörigen«, mahnte er.
Josefa rollte mit den Augen.
»Schon klar. Tut mir leid.« Sie stieß Astrid in die Seite. Eine Aufforderung, das Gespräch woanders fortzusetzen.
Die Dame war inzwischen an den Tresen getreten.
»Hallo, können Sie mir sagen, wo ich meinen Mann finde?«, wandte sie sich an Elena. »Tobias Lichte. Er wurde heute operiert. Blinddarm.« Sie wippte auf den Sohlen hin und her. Die Ohrringe klapperten im Takt dazu.
Daniel wurde hellhörig. Er kam nach vorn. Sie trug ein Parfum, wie gemacht für diese Jahreszeit. Mit einem Herz aus Bergamotte, Jasmin und Haselnuss.
»Frau Lichte, Ihr Mann wird noch heute Nachmitatg operiert.« Er sah auf die Uhr. »Der Termin hat sich ein wenig verschoben, weil wir einen Notfall hereinbekommen haben.«
Die Steine auf Nataschas Armbanduhr funkelten im Licht über dem Tresen.
»Oh.« Einen Moment hörten die Ohrringe auf zu wackeln. »Das ist aber ungünstig. Ich habe heute Abend einen Auftritt und muss gleich zum Flughafen.«
»Tut mir leid. Es ging wirklich nicht anders.«
Natascha musterte den Arzt aus schmalen Augen.
»Irgendwoher kenne ich Sie.«
»Dr. Norden, Klinikchef«, stellte sich Daniel vor.
»Richtig.« Ihre Augen leuchteten auf. »Ich habe Ihr Foto im Internet gesehen. Als ich für Tobias die Klinik ausgesucht habe.«
»Dann scheinen wir ja einen positiven Eindruck gemacht zu haben.«
»Das wird sich zeigen.« Nataschas Stimme war spitz wie eine Nadel. »Wenn mein Mann noch nicht operiert ist, kann ich ihn ja sicher noch einmal sehen, oder?«
»Natürlich. Station 3, Zimmer 28«, gab Elena die gewünschte Information.
Irgendwo klingelte ein Handy. Plötzlich hatte es Natascha Lichte eilig.
»Vielen Dank.« Im Weggehen nestelte sie das Mobiltelefon aus der Tasche. Ihre Stimme übertönte die Geräuschkulisse am Tresen noch, als sie schon meterweit entfernt war.
Kopfschüttelnd sah Dr. Norden ihr nach. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn, und er sah sich um.
»Apropos Tobias Lichte. Wo steckt eigentlich der Kollege Gruber? Der soll nachher die OP leiten.«
Elenas Miene strahlte auf.
»Seine erste?«
Daniel nickte.
»In letzter Zeit wirkte er etwas fahrig. Ich dachte mir, dass ihm diese Erfahrung zu etwas mehr Selbstsicherheit verhelfen könnte.«
»Ich gehe ihn suchen«, versprach Schwester Elena.
Sie schnappte sich ein paar Akten, die sie den Lästerschwestern zur Bearbeitung anvertrauen wollte – Arbeit hielt vom Gerüchtestreuen ab –, und machte sich auf den Weg.
*
Lange musste die Pflegedienstleitung nicht suchen. Sie fand den jungen Kollegen im Aufenthaltsraum. Er saß am Computer und suchte nach Krankheiten, die zu seinen Symptomen passten. Gebannt starrte er auf den Bildschirm.
Seine Lippen bewegten sich lautlos. Lärm machten nur die Schritte auf dem Flur. Diesmal gingen sie nicht vorbei. Schnell klickte er auf einen anderen Reiter in der oberen Leiste des Bildschirms. Anatomie des Menschen.
»Querverlaufdender Dickdarm, Leerdarm, Blinddarm«, benannte er die Körperteile auf dem Monitor. Mit einem Auge schielte er hinüber zur Tür.
Elena steckte den Kopf herein.
»Hast du kurz Zeit?«
Er zuckte zusammen.
»Hast du mich jetzt erschreckt!«
Sollte sie ihm sagen, dass er ein schlechter Lügner war?
»Tut mir leid.« Elena schloss die Tür hinter sich und gesellte sich zu ihrem Kollegen. Sah ihm über die Schulter. »Hoffentlich ist der Kerl, dem du zu Leibe rücken darfst, auch so gut gebaut.«
Er lachte nicht.
»Meine erste OP-Leitung.«
»Ich weiß. Ich habe es vorhin vom Chef persönlich erfahren. Gratulation.«
Benjamin rang sich ein Lächeln ab.
»Danke. Kannst du mich vielleicht ein bisschen abfragen?«
»Es geht doch nur um einen Blinddarm.« Elena legte den Kopf schief und musterte ihn. Dieses Blinzeln. Erst neulich war ihr ein Buch über Körpersprache in die Hände gefallen. Was versuchte Benjamin, vor ihr zu verbergen?
»Bist du etwa nervös?«
»Quatsch«, erwiderte er eine Spur zu schnell. »Ich will nur keinen Fehler machen.«
»Verständlich.« Elena meinte es ernst. Mit dem Chef zu operieren, war auch für sie immer noch eine große Sache. Selbst wenn sie privat mit ihm und seiner Frau Fee befreundet war. Beim Gedanken an Felicitas wurde ihr Herz schwer. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf den Assistenzarzt. »Was hältst du eigentlich von Tobias Lichte?«
»Sympathischer Mann. Meiner Ansicht nach spielt er ein bisschen zu viel