Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
nachdenklich an.
»Ich glaube eher, damit versucht er, seine Angst in den Griff zu bekommen.«
Tobias? Angst?
»Meinst du wirklich?«, fragte Benjamin mit großen Augen.
Beim Anblick ihres jungen Kollegen zog sich Elenas Herz zusammen. Sie hätte noch so viel zu sagen gehabt. Doch die Akten in ihren Armen erinnerten sie daran, dass sie anderes zu tun hatte, als ihrem Kollegen Mut zuzusprechen.
»Mach dir nicht so viele Sorgen um das Medizinische. Ich kenne keinen korrekteren Arzt als dich. Versuche lieber, ihm Sicherheit zu geben.« Sie zwinkerte ihm zu und verließ das Zimmer.
Mit angehaltenem Atem wartete Dr. Gruber darauf, dass die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Erst dann vergrub er das Gesicht in den Händen. Seine Augen flimmerten! Schon wieder! Und er hatte immer noch keine Ahnung, was ihm fehlte.
*
»Wenn du hier wartest, dirigiere ich das Taxi vor die Tür«, machte Janni ein Angebot, das Fee nicht ausschlagen konnte.
Gerda Schramm hatte ihr ans Herz gelegt, Sport zu machen. Schwer vorstellbar, wo sie doch nach wenigen Metern atmete wie ein wilder Stier. War sie einmal ein sportlicher Mensch gewesen? Felicitas erinnerte sich nicht.
»Ich laufe auch bestimmt nicht weg«, versprach sie und sank auf eines der Lounge-Sofas in der Lobby. Vor ihr stand ein kleiner Tisch aus Kunstleder. Eine vielgelesene Zeitschrift lag darauf. Aber Fee hatte keine Lust auf Lesen. Gab es überhaupt etwas, worauf sie noch Lust hatte? Sie lehnte sich zurück und sah sich um.
Eine Frau durchquerte die Lobby. Den rechten Arm trug sie in einer schwarzen Schiene vor dem Bauch. Der linke war so geschient, dass sie ihn nicht abwinkeln konnte. Wie eine Polizistin, die den Verkehr regelte. Der Mann neben ihr redete ohne Punkt und Komma auf sie ein. Fee ließ den Blick weiter schweifen. Sie sah gebrechliche Menschen in sportlichen Jogginghosen. Alte Damen mit Lockenwicklerfrisuren in wattierten Morgenmänteln. Patienten mit Krücken oder Rollstuhl, die fahrbaren Infusionsständer im Schlepptau. Ein buntes Durcheinander aus Besuchern, Ärzten, Patienten, Schwestern und Pflegern, mit geschäftigen, bedrückten oder fröhlichen Gesichtern. Sie alle waren wie Fee. Und doch gab es einen Unterschied: Im Gegensatz zu ihr erinnerten sie sich alle an ihre Vergangenheit. Nur sie, Dr. Felicitas Norden, hatte keine Ahnung, wer sie war. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ab. Sie suchte in ihrer Strickjacke nach einem Taschentuch. Zuckte zurück, als sie auf etwas Hartes, Kühles stieß.
»Ach, der Musikspieler.« Sie zog das Kästchen mitsamt dem Kabel heraus. Drehte und wendete die Streichholzschachtel und fand schließlich einen Knopf zum Einschalten. »Na ja, warum eigentlich nicht?« Sie nestelte die Stöpsel, die an den Kabelenden baumelten, in die Ohren und schaltete ein. Einaudis Hände tanzten über die Klaviertasten. Fee schloss die Augen. Die Welt um sie herum löste sich auf. Sie hörte nur noch die Musik. Summte mit, als hätte sie nicht ihr Gedächtnis verloren.
Und plötzlich lag alles vor ihr, als hätte sie es nie vergessen.
Sie saß an ihrem Schreibtisch in der Klinik. Eine ganze Weile fühlte sie sich schon nicht mehr gut, irgendwie krank. Doch so schlimm wie an diesem Morgen war es noch nie gewesen. Die Stiche in der Brust glichen eher einem Druckschmerz. Deshalb dachte sie nicht sofort ›mein Herz‹. Sie ärgerte sich vielmehr über die Kollegen. Über Elena und Matthias Weigand, die auf dem Flur standen und schwatzten. Dagegen gab es nur ein Mittel. Fee schaltete den CD-Spieler auf ihrem Schreibtisch ein. Ludovico Einaudis Hände tanzten über die Klaviertasten. Sie entspannte sich ein bisschen. Vielleicht waren die Schmerzen nur Verdauungsstörungen, hervorgerufen von Popcorn und Nachos, die sie am Abend zuvor im Kino durcheinandergegessen hatte. Matthias’ Lachen wehte herüber.
»Ist das nicht normal im Kino?«, scherzte er.
»Blödmann«, zischte Elena.
In diesem Moment hielt Fee es nicht mehr am Schreibtisch aus. Sie stürzte hinaus auf den Flur.
»Wenn ihr denkt, ich höre euch nicht mehr, habt ihr euch getäuscht.« Ihr Herz krampfte sich zusammen. An dieser Stelle hörten ihre Erinnerungen auf.
*
»Es ist doch ganz normal, dass man vor so einem Eingriff ein bisschen nervös ist.« Dr. Gruber hatte seinem Patienten noch einmal einen Besuch abgestattet, um eine weitere Blutprobe zur Analyse ins Labor zu geben, bevor es für alle Beteiligten ernst wurde.
»Ich habe keine Angst.« Tobias Lichte zog den Schlafanzugärmel herunter. »Ist ja nicht mein erster Eingriff.« Er zog die Bettdecke weg und deutete auf sein vernarbtes Knie. »Skiunfall. Das Band wurde unter örtlicher Betäubung wieder zusammengeflickt.«
Benjamin lachte.
»Meine Rede. Sport ist Mord. Ich glaube, ich bin der unsportlichste Mensch auf der Welt.« Er klopfte sich auf den kleinen Bauch, der sich unter dem Kittel wölbte.
Tobias deckte sich wieder zu. Sein Blick ruhte auf dem jungen Arzt.
»Aber operieren ist ja auch so etwas wie Sport, oder?«
»Assistieren nicht so. Und selbst geleitet habe ich noch keine. Sie sind mein erster Fall. Und eine Vollnarkose ist etwas anderes als eine örtliche Betäubung.«
»Dann bekomme ich wenigstens nichts mit. Wird schon schief gehen.« Tobias Lichte zwinkerte ihm zu und wollte wieder nach dem Handy greifen, als es kurz klopfte. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür. »Natascha!« Tobias’ Augen leuchteten auf. »Was machst du denn noch hier? Ich dachte, du bist auf dem Weg zum Flughafen.«
»Kleine Überraschung.« Sie beugte sich über ihren Mann und küsste ihn. »Ich dachte, du bist längst operiert.« Ihr zweiter Blick galt Dr. Gruber. Der musste kein Hellseher sein, um den Vorwurf darin zu lesen.
»Dr. Norden hatte einen Notfall. Aber ich denke, dass wir in einer Stunde loslegen können.«
»Das ist genau drei Stunden zu spät«, reklamierte Natascha Lichte.
Tobias zwinkerte dem Assistenzarzt zu.
»Sie meint es nicht so. Meine Frau ist Pianistin und hat heute Abend ein Konzert. Vor solchen Ereignissen ist sie immer ziemlich gestresst.« Er streckte die Hand nach seiner Frau aus und streichelte ihren Arm.
Natascha verzog den Mund, schwieg aber. Dafür hatte Benjamin das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.
»Ich denke, Sie können unbesorgt fliegen. Die Entfernung eines Blinddarms ist heute eine Routinesache.«
»Was nicht heißt, dass nicht trotzdem etwas passieren kann.«
Tobias rollte mit den Augen.
»Ich bin mir sicher, Dr. Norden und Dr. Gruber wissen, was sie tun.«
Benjamin Gruber räusperte sich.
»Natürlich kann man Komplikationen nie ausschließen. Wovon ich in Ihrem Fall aber nicht ausgehe. Sie sind ein junger, gesunder Mensch.« Er griff nach der Akte und klappte sie auf. Der Anästhesiebogen lag zuoberst. »Sie trinken kaum Alkohol, rauchen nicht. Haben weder Allergien noch eine chronische Erkrankung. Und Medikamente nehmen Sie auch nicht.« Er klappte die Mappe wieder zu und lächelte. »Der Traum eines jeden Anästhesisten. Er legt Sie schlafen, wir entfernen den Appendix, und im Handumdrehen sind Sie Ihre Schmerzen los.«
»Das wäre ein Traum«, erwiderte Natascha. Sie meinte es ernst. »Tobias leidet sehr unter diesen Attacken. Sie kommen immer dann, wenn man sie am wenigsten brauchen kann.« Tobias drückte ihre Hand, sie lächelte ihm zu. »Auch, wenn du immer gern den starken Mann spielst. Ich weiß, dass es in dir drin anders aussieht.«
*
Wie zur Feier von Fee Nordens bunter Landkarte zerriss der Wind für einen Moment die Wolkendecke. Die Sonne fiel durch die großen Scheiben der Behnisch-Klinik und beleuchteten die Eingangshalle wie eine Filmkulisse. Fee zog die Stöpsel aus den Ohren und betrachtete das unwirkliche Bild.
»Das Taxi wartet.« Jannis Stimme hallte durch die Lobby. Mit weitausgreifenden Schritten kehrte er zu seiner