Das getupfte Band. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
und wohnt in der Nähe von Harrow. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen auf Halbsold gesetzten Major der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; allein vierzehn Tage vor der Hochzeit trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«
Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.
»Bitte, vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«, sagte er.
»Das wird mir nicht schwer fallen, denn alle Vorgänge dieser entsetzlichen Zeit stehen mir unauslöschlich im Gedächtnis. – Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, auch wird zur Zeit nur der eine Flügel bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sich im Erdgeschoß, während die Wohnzimmer im mittleren Stockwerk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unser Stiefvater, das zweite meine Schwester und das dritte ich selbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegen führen alle drei Türen auf denselben Gang. – Ich spreche doch verständlich?«
»Vollkommen.«
»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vor dem Hause. An jenem schrecklichen Abend also zog sich unser Stiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wußten wir wohl, daß er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester wurde durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeitlang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.
›Sag' mir, Helene‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹
›Nein, niemals.‹
›Ich habe auch schon gedacht, vielleicht seist du es, die nachts im Schlafe pfeift. Aber du glaubst doch auch nicht, daß das sein kann?‹
›Gewiß nicht, warum denn?‹
›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin daran aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen, – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vorplatz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du es auch gehört hast.‹
›Nein, ich habe nichts gehört. Das muß von dem Zigeunergesindel unten im Park herkommen.‹
›Höchst wahrscheinlich; aber es wundert mich doch, daß du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹
›Ich schlafe eben fester als du.‹
›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetzte sie lächelnd; damit schloß sie die Tür, und wenige Augenblicke darauf hörte ich, wie sie ihre Türe abschloß.«
»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?« fragte Holmes.
»Stets.«
»Und warum taten Sie das?«
»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, daß unser Stiefvater eine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.‹
»Ja freilich. Bitte, fahren Sie nur fort.«
»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, daß ich und meine Schwester Zwillinge waren, und Sie wissen sicher auch, wie eng man da miteinander verbunden ist. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind, und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angstschrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Rasch sprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Gang hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war es mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klingendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstandes. Die Zimmertüre meiner Schwester war schon aufgeklinkt und öffnete sich langsam. Starr vor Angst wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde; da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände hilfesuchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen, und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zuckend zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›Oh, mein Gott! Helene! Es war . . . Band . .! . . . getupfte Band . . .!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer gräßlicher Krampfanfall ihr die Worte im Munde erstickte. Ich wollte eben unsern Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm; da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte sie das Bewußtsein schon verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorfe herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne daß sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«
»Einen Augenblick!« unterbrach sie Holmes, »haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«
»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus sicheren Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturmes krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«
»War ihre Schwester angekleidet?«
»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel. Sie hatte keinen Lichtschalter am Bett, es war auch kein Steckkontakt vorhanden, um eine Nachttischlampe anzuschließen. Deshalb hielt sie sich immer Kerze und Streichhölzer auf dem Nachttisch bereit.«
»Sie hat also noch Licht gemacht und sich umgeschaut, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«
»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinen Mitteilungen ging hervor, daß die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände und der Fußboden wurden untersucht, aber nirgends wurde ein Anhaltspunkt gefunden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von einer Einwirkung äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«
»Und Gift – wie steht es damit?«
»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«
»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«
»Ich bin der Meinung, daß meine Schwester nur infolge einer durch Schrecken hervorgerufenen Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«
»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in der Nähe des Hauses auf?«
»Jawohl; es sind fast immer einige da.«
»Und was glauben Sie, daß Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«
»Das möchte ich fast für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner im Park, bezogen haben. Vielleicht haben ihr die getupften Tücher, die viele von ihnen