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Licht und Schatten. Johannes KunzЧитать онлайн книгу.

Licht und Schatten - Johannes Kunz


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war es ihm unmöglich, auch nur eine bescheidene Beschäftigung zu finden. Für die Tschechen war er nach wie vor der Deutsche, obwohl er ja in die Rest-Tschechoslowakei gezogen war. Als solcher war er angesichts der herrschenden nationalen Hysterie nicht gefragt. Und für die wenigen im Land verbliebenen deutschen Unternehmer, soweit sie nicht Juden und im Begriffe auszuwandern waren, galt er als Nichtbesitzer eines Ariernachweises nicht als tragbar, mehr aus Angst vor Repressionen als aus Überzeugung. Meine Mutter Ilse und ihr Bruder Walter Beck hatten ihren Vater sehr bedrängt, ins Ausland zu gehen. Dies lehnte mein Großvater mit der Begründung ab, dass er im Ausland kein Geld habe und ein Emigrantendasein dieser Art der Familie nicht zumutbar sei. Zwar hatte er im Ausland einige Freunde, aber er war viel zu stolz, um deren Hilfe in Anspruch zu nehmen. Meine Mutter und mein Onkel sahen sich in einer ausweglosen Situation: »Wir sind christlich aufgewachsen und wussten überhaupt nichts von jüdischen Großeltern, es hat sich doch bisher kein Mensch um so etwas gekümmert! Nach den ›Nürnberger Gesetzen‹, einer Erfindung Hitlers und seiner Mittäter, die eine wissenschaftlich keineswegs begründete Rassentheorie beinhaltete, war man eben mit jüdischen Großelternteilen nicht ›reinrassig‹ und galt – wie in meinem Fall – als ›Halbjüdin‹. Man hätte ebenso ›Halbarierin‹ sagen können, aber erstere Bezeichnung klang in Nazi-Ohren viel besser. Als eine solche war man aber von vielem, sehr vielem ausgeschlossen. Man durfte überhaupt nichts lernen. Ein Glück, dass ich die Matura hatte! Von einem Studium konnte keine Rede sein. Man durfte auch keine Ehe mit einem sogenannten Arier eingehen, aber ich hatte zu jener Zeit keine wie immer gearteten diesbezüglichen Absichten.«

      Meine Mutter hätte gerne Medizin studiert, was ihr aufgrund der geschilderten Situation versagt blieb. Nun überlegte sie, am Königlichen Institut in Stockholm eine Ausbildung in Gymnastik und Heilgymnastik zu absolvieren, wobei Letzteres ein sogenanntes »kleines« Medizinstudium bedingte. Das gefiel ihr, zumal das schwedische Diplom auf der ganzen Welt anerkannt wurde und sie die Möglichkeit gehabt hätte, ihre Tätigkeit in verschiedenen Ländern auszuüben, um mehrere Sprachen zu erlernen. Aus Stockholm erfuhr meine Mutter, dass sie im September des folgenden Jahres mit der Ausbildung beginnen könne. Bis dahin wollte sie sich mit kleinen Jobs wirtschaftlich über Wasser halten – in einem Schreibbüro oder als Schneiderin. Doch auch das misslang, als man von ihr die Beibringung eines Ariernachweises forderte. Aufgrund der Lektüre von Hitlers »Mein Kampf« wusste sie von den Plänen des »Führers«, die Juden aus Staat und Wirtschaft zu eliminieren. Aber noch lebte die Familie Beck, abgesehen von erwähnten Schikanen, relativ (!) unbehelligt ohne große Panikstimmung dahin, weil man sich das ganze Ausmaß der Unmenschlichkeit dieses Regimes nicht vorstellen konnte.

      Die von den Nazis angestrebte Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben wurde in den ersten zehn Monaten des Jahres 1938 in Deutschland vorwiegend durch Verwaltungsmaßnahmen vorangetrieben. In Österreich war es allerdings nach dem Anschluss zu Gewalttätigkeiten gegenüber Juden gekommen, welche das Treiben von SA und SS im »Altreich« in den Schatten stellten. Nun trat ein Ereignis ein, das alles bisher Geschehene und Vorstellbare übertraf, tausendfach Angst und Schrecken verbreitete und den Auftakt für das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit im 20. Jahrhundert bildete. Am 7. November 1938 beging der 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan eine Verzweiflungstat. In der deutschen Botschaft in Paris erschoss er den Legationssekretär Ernst von Rath in der Annahme, den Botschafter vor sich zu haben. Vor der Polizei gab er später an, aus Rache für die Behandlung seiner Eltern durch deutsche Behörden gehandelt zu haben.

      Zwei Tage später hielt Hitler wie immer am 9. November in München in Erinnerung an den Marsch auf die Feldherrnhalle 1923 eine große Rede. Mit einer Hetztirade in Reaktion auf das Pariser Attentat löste er ein Judenpogrom aus. Im gesamten Einflussbereich des NS-Regimes gingen Schlägertrupps, die vor allem aus SA-Leuten bestanden, gegen jüdische Geschäftslokale und Synagogen vor. Es wurde zerstört, gebrandschatzt und gemordet. Laut Oberstem Parteigericht wurden 91 Juden getötet, 29 jüdische Warenhäuser durch Feuer vernichtet, 171 Wohnhäuser und 101 Synagogen zerstört, 7500 Geschäfte verwüstet. In dieser Nacht wurden 25.000 Juden zusammengetrieben und in Konzentrationslager gebracht. Der Begriff »Reichskristallnacht« geht auf die Tatsache zurück, dass allein an Schaufenstern Glasschäden von vielen Millionen Reichsmark entstanden sind.

      Just am Morgen dieses 9. November 1938 brachte der Postbote meiner Mutter den ersehnten Brief aus Berlin, in Stockholm studieren zu dürfen. Ihre übergroße Freude hielt aber nur sehr kurz an: »An diesem 9. November, nur drei Stunden nach Erhalt des Briefes, erhielten wir den Telefonanruf meines Onkels Oskar aus Prag mit der erschütternden Nachricht, dass mein Vater tot sei. Er hatte selbst seinem Leben ein Ende gesetzt. Wir konnten es nicht fassen. Wenige Tage zuvor hatte er uns anlässlich eines Telefongespräches von einem Bekannten erzählt, der aus Lebensangst infolge der politischen Entwicklung Selbstmord begangen hatte. Mein Vater war entsetzt und meinte, dass man dazu noch immer Zeit hätte. Was in ihm vorgegangen ist und was ihn bewogen hat, sein Leben wegzuwerfen, war sicher die Ausweglosigkeit der Situation. Er hat einen Abschiedsbrief an seine Familie hinterlassen, in dem er der Hoffnung Ausdruck gab, dass wir es jetzt leichter haben würden und er keine Belastung mehr wäre. Er wusste aber ganz genau, dass wir immer zu ihm gestanden wären und nur darauf warteten, in Prag vereint zu sein. Ich glaube, dass er sehr wohl erfasst hat, was sich nach diesem 7. November abspielen würde, und dass es sicher keine Kurzschlusshandlung war. Für mich war es furchtbar, dass ein völlig gesunder Mensch auf dem Höhepunkt seines Lebens diesem ein Ende setzt. Ich bin sehr lange damit nicht fertiggeworden.«

      Großmutter, Mutter und Onkel fuhren sofort von Aussig nach Prag. Mein Großvater war getaufter Christ und sollte folglich ein christliches Begräbnis bekommen. Die deutsche katholische Geistlichkeit lehnte das ab, da dies damals Selbstmördern versagt war. Die tschechische Geistlichkeit erklärte sich zu einem christlichen Begräbnis bereit, weil es sich um einen tragischen Ausnahmefall handelte. Außer der Familie erschienen zahlreiche Freunde und Bekannte. Der langjährige Hausarzt der Familie Beck nahm meine Mutter in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: »Er hat es überstanden!« Er wusste, wovon er sprach, auch er und seine Frau wurden Opfer des Nazi-Terrors. Zurück in Aussig, wurde eine Seelenmesse vom Dechant, der mit meinem Großvater befreundet war, gelesen. Auf dem Weg zur Kirche erlebte die Familie, wie ein Zeitungsverkäufer ein Hetzblatt mit der Schlagzeile »Nieder mit dem dreckigen Saujudengesindel!« anpries. Und so erlebte meine Mutter die »Reichskristallnacht« in Aussig:

      »Auch in unserer Stadt holte man Juden aus ihren Wohnungen oder fing sie auf der Straße ein, fuhr sie wie Aussätzige auf Leiterwagen durch die Stadt – freigegeben zur allgemeinen Verhöhnung. Unter ihnen waren viele Bekannte, angesehene Bürger, Ärzte, Anwälte, Schauspieler etc. Auch der Vater einer meiner Freundinnen, ein angesehener Dermatologe, war darunter. Seine Familie hat ihn nie wiedergesehen. Jener Teil der jüdischen Bevölkerung, der weitsichtig war und die Möglichkeit dazu hatte, war längst ins Ausland abgewandert. Uns fehlten diese lieben Freunde sehr, aber es war jeder glücklich zu preisen, der bei rechter Zeit das Land oder sogar den Kontinent verlassen hatte. Nun waren wir also Gefangene dieses Unrechtsstaates, so gut wie rechtlos. Und das in dem Land, in der Stadt, in der wir aufgewachsen waren, die Schule besucht und unsere Freunde hatten.«

5 Familie Beck überstehtden Zweiten Weltkrieg

      In dieser Zeit, so erzählte meine Mutter, habe die Isolation, das Ausgestoßensein, genau das Gegenteil dessen bewirkt, was beabsichtigt war, nämlich Abwertung und Erniedrigung. Ihr Selbstbewusstsein, das infolge der ihrer Generation zuteil gewordenen mehr oder weniger autoritären Erziehung nicht besonders ausgeprägt gewesen sei, habe sich zu ihrer eigenen Überraschung enorm gesteigert. Sie ging hoch erhobenen Hauptes durch die Stadt, in dem Bewusstsein, im Recht zu sein und dass das, was ihr und ihresgleichen geschah – von Juden oder Andersdenkenden gar nicht zu reden – gröbstes Unrecht war. Das hat ihr geholfen: »Was aber nicht heißt, dass wir ein normales Leben führten. Wenn ich ›wir‹ sage, meine ich damit meine Familie und meinen Freundeskreis. Es war der Beginn von sieben Jahren Angst. Wir waren, wenn auch mit stark eingeschränkten Rechten, noch geduldet, es war uns aber vollkommen klar, dass wir an der Reihe waren, sobald die Juden liquidiert waren. Wir sogenannten ›Mischlinge‹ und die sogenannten ›Mischehen‹. Wir


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