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Licht und Schatten. Johannes KunzЧитать онлайн книгу.

Licht und Schatten - Johannes Kunz


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»Endspurt« in Richtung Matura. Das letzte Schuljahr 1937/38 brach an. Politisch wurde die Situation immer angespannter. Aus Deutschland kamen beängstigende Nachrichten für meine Familie. Man hörte, wie die Juden dort behandelt wurden, dass es Konzentrationslager gab, in die Andersdenkende gesteckt wurden, und der Freundeskreis meiner Mutter merkte zusehends, wie sich die nationalen Gegensätze auch in der Tschechoslowakei verstärkten. Manche sprachen schon von Krieg, andere, besonders Juden, die die Verfolgung ihrer Glaubensgenossen in Deutschland mit zunehmender Besorgnis betrachteten, erwogen, das Land zu verlassen, konnten oder wollten es aber nicht glauben, dass es tatsächlich in der Tschechoslowakei so weit kommen könnte.

      Jetzt ging alles sehr schnell. Nach bestandener Matura absolvierte meine Mutter mit Freundinnen ihre erste Reise ohne Eltern. Es ging nach Dalmatien ans Meer. Dort erfuhren die jungen Leute durch Lektüre des »Prager Tagblattes« von den Kriegsvorbereitungen Hitlers. In der Heimat versuchte mein Großvater, existenziell zu überleben. Meine Mutter erkannte, in welche Zange er geraten war: »Kein Tscheche wollte in dieser Situation etwas mit einem Deutschen zu tun haben, die deutsch-jüdischen Familien befanden sich bereits im Aufbruch nach den USA oder in ein anderes Ausland, und Deutsche jüdischer Abstammung kamen eo ipso nicht infrage.

      Die Stimmung in Aussig war ähnlich der in Prag, endlose Gespräche mit Freunden und Gleichgesinnten, alle befanden sich in Hochspannung, und niemand wusste, was er tun sollte. So ging es auch mir. Man riet mir von allen wohlmeinenden Seiten, erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Man befürchtete nach wie vor, dass es doch zu einem Krieg kommen könnte, und bezeichnete die Ära als ›Böhmischen Krieg‹. Ich spielte mit den Briefmarken, die mein Vater noch nicht in seiner Sammlung untergebracht hatte, wusch die Marken, sortierte sie nach einem Katalog, wobei ich jede einzelne oft lange suchen musste, und klebte sie schließlich in das Album. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass diese Spielerei einmal mein Beruf werden könnte.«

      Die Hysterie strebte ihrem Höhepunkt entgegen, jeden Tag kam es zu irgendwelchen Zwischenfällen zwischen Tschechen und Deutschen. Jugendliche schrien meiner Mutter »Heil, Fräulein!« ins Gesicht, wobei sie ihr den rechten Arm entgegenstreckten. Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel Walter, sicherte mit seinem Arbeitseinkommen die Familie Beck, so gut er konnte, wirtschaftlich ab. Meine Mutter fuhr mit ihrer Mutter nach Prag, wo der Vater jetzt beruflich tätig war. Hier war die Atmosphäre inzwischen immer schwüler geworden. Täglich hörte man von neuen Verhandlungen, aber es kam nie zu einer Lösung. Die tschechische Bevölkerung drängte auf eine Mobilmachung. Zugleich war strengste Verdunkelung angeordnet worden. Das betraf nicht nur die Straßenbeleuchtung. Es durfte auch kein Lichtschein aus den Fenstern der Häuser dringen. Dort, wo Licht angezündet wurde, mussten die Fenster mit dunklem Papier verklebt werden, und auf der Straße durfte man nur ganz schwache, zu Boden gerichtete Taschenlampen benützen. Es war, wie meine Mutter erzählt, gespenstisch und sah sehr nach Krieg aus: »Da kam am 28. September 1938 die Nachricht, dass sich am nächsten Tag, dem 29. September, der britische Premierminister Chamberlain, der französische Ministerpräsident Daladier, Hitler und Mussolini in München treffen werden. Auf einmal schlug die Stimmung um, man glaubte, weil man glauben wollte, an eine Lösung der Probleme, Rettung der Tschechoslowakei und des Friedens. Das erwies sich aber als Irrglaube, als tödlicher Irrtum. Das Schicksal der Tschechoslowakei war längst besiegelt. Mit ihrer Zustimmung zur Abtretung des sogenannten Sudetengebietes haben die Westmächte (Verbündete der Tschechoslowakei!) die Zerstörung des Staatsgefüges ermöglicht, den Staat seiner Lebensfähigkeit beraubt und Hitler in den Rachen geworfen. Nachdem die Hoffnung auf die Unterstützung durch die Alliierten sinnlos geworden war, ließ Beneš die Mobilisierung abblasen, da ein Kampf des kleinen Reststaates wegen der Übermacht der deutschen Kriegsmaschinerie zu einem unvorstellbaren Blutbad geführt hätte und nicht nur unzumutbar, sondern auch sinnlos gewesen wäre.«

      Eduard Beneš (1884–1948) war mehr als 30 Jahre der prägende tschechische Politiker. Einst Mitarbeiter von Masaryk, dem Begründer des tschechoslowakischen Staates nach Ende der Donaumonarchie, versuchte Beneš als Außenminister von 1918 bis 1935 die internationale Position der jungen Republik durch Verträge mit Jugoslawien, Rumänien, Frankreich und der Sowjetunion zu stärken. 1935 war er mit den Stimmen der Nationalen Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten zum Präsidenten gewählt worden. Nach dem Münchner Abkommen und der Abtretung des Sudetenlandes musste Beneš zurücktreten. Im Zweiten Weltkrieg war er dann Präsident der Exilregierung, und nach dem Krieg wurde er wieder Staatspräsident.

      Nach Ansicht meiner Mutter lagen die Wurzeln dieses Münchner Abkommens, das über den Kopf der Hauptbeteiligten geschlossen wurde, sowohl bei den Tschechen wie bei den Deutschen: »Die Tschechoslowakei war eine Demokratie, in der Freiheit und Menschenrechte einen hohen Stellenwert hatten. Nur in nationalen Fragen wie dem Wunsch der deutschen Minderheit nach Autonomie blieb die Regierung, teilweise aus Ressentiments, zu lange taub. Dadurch wurden die Sudetendeutschen eine allzu leichte Beute des Nationalsozialismus, anstatt sich dem Staat gegenüber, dessen Bürger sie waren, loyal zu verhalten.

      Die Sudetendeutschen ließen sich von der Propaganda blenden, ohne diese als solche zu erkennen und ohne zu überlegen, wem sie sich da anschlossen, sondern ließen sich von einem diktatorischen, menschenverachtenden Regime und dessen Vertretern für deren größenwahnsinniges Vorhaben missbrauchen. Dabei stand alles in ›Mein Kampf‹. Man hätte es nur lesen müssen! Ich habe es von der ersten bis zur letzten Seite gelesen.«

      In den letzten Septembertagen des Jahres 1938 glich Prag einem riesigen Friedhof. Ein Staat wurde zu Grabe getragen. An allen Straßenecken der Innenstadt waren Lautsprecher angebracht, welche die beschlossene Abtretung des Sudetengebietes an Hitler-Deutschland verkündeten. Um diese Lautsprecher herum standen Menschentrauben, Tschechen und Deutsche, die weinten. Meine Mutter stand bei ihnen und weinte mit. Als mein Großvater von diesem »Abkommen« hörte, reagierte er mit der Prophezeiung: »Das muss zu einem Krieg in Europa führen, und der wird fürchterlich enden!« Er hatte recht, wiewohl er damals noch nicht ahnen konnte, dass ein Weltkrieg daraus entstehen würde. Die Situation meiner Großeltern und meiner Mutter wurde nun immer prekärer: »Eines Abends berichtete unser Onkel Frank, er sei im ›Deutschen Haus‹ – einem bekannten Restaurant und zu jener Zeit Versammlungsplatz der Deutschnationalen – gewesen, um die neuesten Nachrichten zu erhalten. Onkel Frank war Jude, aber mit seinem Berliner Akzent fiel es ihm nicht schwer, an die Nachrichten heranzukommen. So erfuhr er von Verbindungsleuten zu Berliner Nazi-Kreisen, dass auch die Rest-Tschechoslowakei in Kürze kassiert werden sollte. Genau in diese Tage fiel eine Begebenheit, die ich nie vergessen habe und nie vergessen werde. Eine meiner Freundinnen und ehemalige Mitschülerin, Irmgard, die aus einer deutschnational ausgerichteten Familie stammte, schrieb mir nach Prag einen seitenlangen Brief des Inhalts, dass sich an unserer Freundschaft nichts ändern werde, was auch geschehen mag. Sie bedauerte, dass ich in diese Situation geraten war, und bot mir ihre Hilfe an, wann immer ich ihrer bedürfen würde. Das alles hat sie nicht nur geschrieben, sondern auch gemeint und in bewundernswerter Weise gehalten!«

      Mein Großvater bestand nun darauf, dass die übrige Familie nach Aussig zurückkehrt, um die dortige Wohnung nicht zu verlieren. Im Falle längerer Abwesenheit wäre das Haus samt Einrichtung konfisziert worden, da die Mitglieder der Familie Beck dann als Flüchtlinge gegolten hätten. Der Großvater wollte sich inzwischen in Prag nach einer ständigen Wohnung umsehen, und sobald er eine solche gefunden hätte, sollte der Rest der Familie zurückkommen. So wurde es verabredet und so trennte man sich.

      Die weitere Abfolge der politischen Ereignisse ist bekannt: Am 1. Oktober 1938 marschierten deutsche Truppen in das Sudetenland ein. Und ein paar Monate später, am 15. März 1939, wurde die Rest-Tschechoslowakei liquidiert. Es kam zur Errichtung des Reichsprotektorates Böhmen und Mähren.

4 Großvaterbegeht Selbstmord

      »Plötzlich war ganz Aussig mit Hakenkreuzfahnen dekoriert«, erinnert sich die mittlerweile 20-jährige Ilse Beck. Die Menschen wollten den Einzug des deutschen Militärs bejubeln. Meine Mutter und Großmutter gingen der Inneren Stadt aus dem Weg, um das Spektakel nicht mit ansehen zu müssen, von dem sie überzeugt waren, dass es die Einleitung einer bösen Entwicklung sein werde. Täglich telefonierten sie mit


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