Elfenzeit 5: Trugwandel. Uschi ZietschЧитать онлайн книгу.
suchte alle Taschen ab und stellte erschrocken fest, dass er bestohlen worden war. ›Das genügt‹, sagte der Kapitän, ›wir können zurück.‹ Er drehte um. Der Steuermann folgte ihm, verlangte aber Aufklärung. Der Kapitän antwortete: ›Wortkarge Leute, die nicht die Wahrheit sagen und prahlen, und die einen schneller bestehlen, als man ausspucken kann – wir sind in Irland, und die Stadt da hinten ist Dublin.‹«
Verblüfftes Schweigen herrschte im Wagen, während Nadja und Fabio Mühe hatten, nicht laut zu lachen.
»Die Iren sind Elfen?«, fragte Pirx schließlich, und da konnte Grog nicht mehr an sich halten. Er lachte, dass sein haariger Bauch wackelte. »Also, was nun?«, hakte der Pixie nach, erhielt aber keine Antwort. Es gab wohl auch keine.
Kurz darauf bog Fabio erneut von der Straße ab, diesmal nach rechts. Er hatte ein B&B-Schild entdeckt, das zur »View Lodge« einlud. Sie fuhren eine einspurige Straße entlang, die immerhin geteert war und zwei Ausweichbuchten aufzuweisen hatte, bis sie auf dem Ende eines Hügels herauskamen, wo malerisch gelegen ein großes Steinhaus sein Fundament gegründet hatte, mit zwei Anbauten für Garage und Landwirtschaft. Links und rechts vom Hof gingen steinumzäunte Weiden ab, auf denen schwarzköpfige Schafe und zumeist braune Pferde friedlich grasten. Es ging auf achtzehn Uhr zu, und das Land zeigte sich von seiner besten Seite: Blauer Himmel hinter schnell abziehenden Wolken, eine rötliche Sonne, die sich auf den Weg in den Westen machte, und weiches, farbintensives Licht, das sich tausendfach in Regentropfen an Zweigen brach. Die Luft war mild und roch nach Ginster, nassem Torf, Rosen und Meer.
»Fast wie daheim«, flüsterte Pirx, als sie ausstiegen – die beiden Kobolde natürlich unsichtbar.
Nadja und Fabio gingen gemeinsam zum Eingang und drückten auf die Klingel. Auf dem Schild daneben stand »O’Sullivan«. Nur wenig später öffnete eine kleine, schlanke Mittfünfzigerin die Tür, die sie freundlich anlächelte und begrüßte: »Wie geht es Ihnen heute, an diesem wunderbaren Abend?«
Fabio schien ein wenig irritiert, aber Nadja kannte dies bereits. »Bestens, bei so einem Wetter«, antwortete sie. »Haben Sie zwei Zimmer für eine Nacht?«
»Nun, Sie haben Glück, ich habe gerade eine Absage bekommen, sonst wäre ich voll belegt gewesen. Zu dieser Jahreszeit ist es besser, zu reservieren.«
»Ach, wir wissen meistens nicht, wo wir heute oder morgen sind«, meinte Nadja leichthin. »Aber hier gefällt es uns so gut … die Aussicht aufs Boyne Valley …«
»Oh ja, wir haben die beste!«, sagte die Frau eifrig und deutete über den Hügel. »Wenn Sie ein Stück nach vorn sehen, können Sie zwischen den Bäumen rechts Newgrange erkennen. Haben Sie das schon besichtigt?«
»Ich, vor Jahren, aber meine Freunde und mein Vater noch nicht, wir wollen es uns morgen ansehen.«
»Also gut, kommen Sie erst einmal herein. Wollen Sie zuerst die Zimmer sehen? Ich gehe voran. Übrigens, ich bin Mrs O’Sullivan. Sagen Sie Anna.«
Nadja folgte ihr. »Ich bin Nadja Oreso, mein Vater Fabio, und meine Freunde David und Rian Bonet.«
»Freut mich! Machen Sie eine Rundreise? Das sollten Sie unbedingt, und sich viel Zeit nehmen, es gibt so viel zu besichtigen. So, sehen Sie hier, die beiden Zimmer. Nummer 5 gleich rechts, und die 9 den Flur runter, links. Die Schlüssel stecken.«
»Was kosten sie?«, fragte Nadja, bevor Fabio etwas sagen konnte, und versetzte ihm einen leichten Stoß, um zu verhindern, dass er zu handeln anfing.
Die Wirtin nannte den Preis, der Nadja völlig angemessen schien. Die Zimmer waren groß, hell und freundlich, mit viel Holz, knalliger Blumentapete, gemütlicher Sitzgelegenheit, eigenem Bad und Vorrichtungen zum Teekochen. Zum Abschluss fragte Mrs O’Sullivan, ob sie ein irisches Frühstück wünschten, und alle sagten begeistert zu.
Dann konnte David sich nicht mehr zurückhalten: »Bitte, gibt es einen Pub hier in der Nähe?«
Mrs O’Sullivan lachte. »Selbstverständlich! Sogar zu Fuß erreichbar, in zehn Minuten. Gehen Sie zurück zur Straße, dann rechts, und an der nächsten Kreuzung gleich wieder rechts. Da ist eine kleine Ortschaft, Boyne Hills heißt es, und der Pub Smoking Cat ist sehr beliebt. Keine Angst, natürlich raucht niemand mehr drin, und das Essen ist gut. Wenn Sie Glück haben, spielen dort heute Abend ein paar Freunde.«
Nadja und Fabio nahmen nach kurzer Diskussion das erste Zimmer, die Zwillinge und die Kobolde das andere. Sie verabredeten sich eine halbe Stunde später und spazierten dann gemeinsam in den Pub, der tatsächlich nicht weit entfernt lag. Wie alle Pubs war das Smoking Cat vollständig mit Holz verkleidet und eingerichtet, mit schummriger Beleuchtung, jeder Menge Bier-Werbeblechschildern an den Wänden, Murphy’s Laws, Dartscheibe, ein paar gerahmte Fotos mit Berühmtheiten und sonstiger Krimskrams, den irgendwann mal jemand einfach hingepinnt hatte. Es ging bereits hoch her, von überall kamen Arbeiter, die schnell ein Pint vor dem Heimweg zu sich nahmen. Dazu ein paar verirrt wirkende, viel zu fein gekleidete Touristen, die solche eher einfachen Pubs abseits der gewohnten Pfade wohl nicht kannten, sowie Ortsansässige, und im Nebenraum eine kleine Gruppe Musiker, die temperamentvoll fiedelten. Sie verliehen den Traditionals oder kurz trads eine rockige Note, was sofort für viel Stimmung sorgte.
»Hi folks, how’s the craic?«, rief der Barmann, als sie nach einem Platz Ausschau hielten. »Was geht ab, Leute?«
Nadja kannte den Ausdruck, und sie antwortete: »Hauptsächlich Bier!«, woraufhin die Arbeiter grölend die Pintgläser hoben. Damit waren sie schon mal willkommen.
»Hier gefällt’s mir«, sagte David grinsend.
Während sie sich setzten, holte der Prinz Bier und Cider, und für sich und Fabio dazu zwölf Jahre alten Bushmills, »weil sich das so gehört«. Eine Weile saßen sie stillvergnügt um einen niedrigen wackligen Tisch auf schäbigen Ledersesseln und ließen alles auf sich einwirken. Pirx und Grog waren ebenfalls versorgt und achteten darauf, dass niemand über sie stolperte.
»Also gut«, sagte Nadja, nachdem sie gegessen hatten, und packte Unterlagen über Irland aus ihrem Rucksack, von dem sie sich nie trennte. »Fangen wir an. Ich habe mich ein bisschen vorbereitet.«
Sie unterhielten sich auf deutsch, das hier vermutlich niemand verstand, außerdem war es ziemlich laut und voll, und keiner achtete auf sie.
»Newgrange wurde vor über fünftausend Jahren erbaut und ist damit älter als die ägyptischen Pyramiden«, fing sie an. »Das ist deswegen von Bedeutung, weil Newgrange selbst ebenfalls ein Kraggewölbe ist, wie es teilweise auch in Ägypten gebaut wurde, nur eben viel später. Das älteste dieser Gewölbe hier in Europa ist der Cairn von Barnenez in der Bretagne, sechseinhalbtausend Jahre alt. Man nimmt an, dass es sich in Newgrange um ein Ganggrab handelt, weil menschliche Überreste sowie verbrannte Knochen auf einer Art Altar gefunden wurden. Gleichzeitig aber ist es auch ein Kalenderbau, denn dreizehn Tage im Jahr, um die Wintersonnenwende, gelangt ein Sonnenstrahl ins Innere des Baus, genau in die Hauptkammer, auf den Altar. Damit ging es also nicht nur um den Tod, sondern auch um das neue Leben, das sich im Frühjahr regt. Deshalb geht die Öffnung nach Osten, zum Sonnenaufgang. Wie übrigens bei allen Tumuli – Tod bedeutet zugleich immer Leben. Die nahebei gelegenen Knowth und Dowth, die früher errichtet wurden, hingegen waren wohl keine reine Nekropolen, sondern dort lebten Menschen um ihren Tumulus. Die beiden Anlagen sind von der Gesamtfläche wegen der Nebengebäude größer, aber Newgrange ist das größte europäische Ganggrab.«
»Wahrscheinlich«, sagte Fabio dazwischen, »halfen die Tuatha damals beim Aufbau, da einige Steine von sehr weit her kamen, die nur schwer transportiert werden konnten. Vielleicht hat sogar Fanmór selbst den Transport unterstützt. Das Volk, das Newgrange baute, ist unbekannt, es existierte lange vor den Kelten. Diese Megalithkultur war sehr spirituell, die Verbindung zur Geisterwelt nahe. Das kann man gut an den Mustern der behauenen Ringsteine erkennen. Vermutlich lebten sie mit den Tuatha in friedlicher Gemeinschaft und vermischten sich sogar.«
Nadja fuhr fort: »Das Ganggrab ist rund zwanzig Meter lang und endet in einer kreuzförmigen Hauptkammer mit drei Nischen. Das innere Kraggewölbe ist sieben Meter hoch und bis auf den