Elfenzeit 4: Eislava. Verena ThemsenЧитать онлайн книгу.
sah die Schwarmkönigin an und nickte mit einem Lächeln. »Die Schuld ist beglichen.«
Die Nöcks verneigten sich vor den Zwillingen. »Wir danken euch!«
Die Tidenwelle trieb sie schneller voran als der schwache Nachtwind es vermocht hatte. Es war eine Welle der Anderswelt, die in beiden Welten ihre Wirkung hatte und sie auch über diejenigen Flüsse nach Norden trieb, die in der Welt der Menschen lagen. »Hütet euch vor den Trollen«, hatte die Schwarmkönigin zum Abschluss gewarnt. »Sie sind immer noch unter den Menschen des Nordens aktiv, manchmal im guten, manchmal im schlechten Sinne. Sie kennen keine Treue und Regeln interessieren sie nicht. Sie nutzen die Macht der Tidenwelle.«
»Trolle sind vermutlich unser geringstes Problem«, meinte David, während er zu den Sternen aufsah und abzuschätzen versuchte, wie weit sie noch nach Norden mussten. »Irgendwo treibt der Getreue sein Unwesen, und er hat viele Helfer. Und wenn bereits die Schatten Annuyns in der Anderswelt auftreten, dann ist womöglich jetzt schon mehr im Argen als wir erhofft hatten. Hast du etwas darüber herausgefunden, wer den Schatten geholt hatte?«
»Ja, das habe ich.«
»Und? Hat es etwas mit dem Getreuen zu tun? Hat er Verbündete in der Anderswelt, die jetzt sogar die Toten für ihre Zwecke nutzen wollen?«
»Nein«, antwortete Rian. »Der Schatten ist nicht geholt worden. Er ist in unsere Welt gefallen.«
Davids Mund wurde trocken. »Das heißt …«
Rian nickte. »Die Grenzen werden dünn. Mauern sind zu Schleiern geworden, und die Schleier reißen auf. Die Welten nähern sich, und wenn nichts geschieht, um es zu verhindern, stürzen sie irgendwann ineinander. Genau, wie Nicholas Abe es Nadja prophezeit hatte.«
4.
Klein, aber fein
Mehrere Tage vergingen, in denen Ainfar sich mehr denn je bemühte, durch nichts aufzufallen, und förmlich mit dem Zwielicht der Zitadelle verschmolz. Er vermied alle Begegnungen, redete nicht mehr als unbedingt notwendig und erledigte seine Aufgaben schnell. Die ganze Zeit kreisten seine Gedanken abwechselnd um den Getreuen und Regiatus, und er war zerrissen zwischen Furcht und Sehnsucht.
Als es an ihm war, gemeinsam mit anderen Dienern bei Bandorchus Tafel aufzutragen, verkrampfte er sich innerlich bei dem Gedanken daran, dass der Getreue ihn dabei wiedererkennen könnte. Die Schüsseln, die er fliegend vor sich her in die große Halle dirigierte, wankten leicht unter seiner Furcht. Sein Blick flog über die langen Tafeln, die auf den versteinerten Beinen von löwenartigen Wesen ruhten, die sich Bandorchu bei ihrer Machtergreifung über das Schattenland widersetzt hatten. Sanftes Licht aus durch die Luft schwirrenden Kugeln erfüllte den ganzen Raum bis hoch zur hohen Bogendecke mit ihren verschlungenen, juwelendurchsetzten Stuckaturen. Einzelne Inseln aus Zwielicht gab es auf halber Höhe über jedem Tisch, wo sie schwebende Formen hervorhoben, gleich Fontänen ohne Brunnenbecken und mit ständig wechselnden Farben und Strömungen. Es war von ästhetischer Schönheit und zugleich sinnverwirrend.
So wie die Herrscherin selbst, die all das geschaffen hatte.
Ainfar sah zum Ende der Halle, wo auf einem Absatz die Tafel der Königin aufgebaut war. Sie saß in der Mitte, alle überragend mit ihrer Größe und ihrer Ausstrahlung. Selbst aus der Ferne konnte Ainfar die Leichtigkeit und Eleganz erkennen, mit der sie jede ihrer Bewegungen durchführte – das sachte Neigen ihres Kopfes, das ihr langes goldenes Haar in wellenartige Bewegung brachte, die grazile Art, in der sie die Hand hob, um die Strähnen wieder zurückzustreichen, oder wie sie den Arm ausstreckte, um mit der schlanken Hand nach dem Kelch vor sich zu greifen – all das unterstrich nur die einzigartige Schönheit ihrer Züge, ihrer blass schimmernden Haut, ihrer schlanken und biegsamen Gestalt.
Kein Mann konnte sie ansehen, ohne sie zu begehren und zu verehren. Und dennoch würde es niemand wagen, die Hand nach ihr auszustrecken, denn ebenso wie ihre Schönheit umgab sie ihre Macht als spürbare Aura. Nur einer schien dieser Macht Vergleichbares entgegensetzen zu können, wurde von ihr wie ein Gleichwertiger behandelt: Der Getreue. Dabei wusste niemand, wer sich unter dieser Kutte verbarg, woher er gekommen war oder was seine Ziele sein mochten.
Er war eines Tages aufgetaucht und schnell zum Mann an der Seite der Herrscherin aufgestiegen, in mehr als einer Hinsicht, wie man munkelte. Wenn es so war, war er der Einzige, der sich rühmen konnte, dass sein Begehren Erfüllung gefunden hatte. Warum? Gab es etwas, womit er die Königin in der Hand hatte, dass sie ihm gewährte, was sie keinem anderen ihrer Diener schenkte? Wer von beiden zog in Wirklichkeit die Fäden?
Der Einzug der Dienerschaft begann, und Ainfars Blick glitt von der Herrscherin zum Platz an ihrer Seite. Er war leer.
Erleichtert atmete er auf.
In einer Reihe mit den anderen Bediensteten schritt Ainfar vor zur königlichen Tafel und zählte, als die Reihe an ihm war, in einem Singsang auf, welche Speisen er brachte. Er hielt dabei den Blick auf Bandorchu gerichtet, um anschließend entsprechend ihrer Gesten vorlegen zu können. Die kurzzeitige Nähe der Herrscherin, als er den Teller nach ihren Wünschen füllte, der Klang ihrer glockenreinen Stimme, als sie ihm erlaubte, weiterzugehen, und der Blick ihrer kristallgrünen Augen ließen ihm für einen Augenblick den Atem stocken. Doch dann wandte sie sich wieder ihren Höflingen zu, und es war, als wäre er aus der Sonne ins Zwielicht getreten.
Er blinzelte kurz, dann fuhr er fort, die Speisen zu verteilen.
Als all seine Schüsseln entweder leer oder an die anderen Tische verteilt waren, kehrte Ainfar an das untere Ende der Halle zurück und setzte sich neben eine Schwanenfrau, die sich bemühte, mit schlanken Händen ihr weißes Kopfgefieder glatt zu streichen. Schwarze Ringe umgaben die Augen, die sie ihm mit einer langsamen Drehung ihres langen Halses zuwandte, und ihre orangegelben Lippen wirkten grell gegen die weiße Blässe ihrer Haut.
»Hast du schon gehört, was man sich über Gofannon und den Kau sagt?«, schnarrte sie.
Ainfar schüttelte den Kopf. Er hatte seit seiner Begegnung mit dem Getreuen kaum mehr ein Wort mit jemandem gewechselt und war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, um zuzuhören, was die anderen erzählten.
»Man sagt, sie wären draußen gewesen.«
Der Tiermann runzelte die Stirn. »Draußen? Vor der Zitadelle?«
»Nein. Draußen, außerhalb des Schattenlands.«
Ainfar starrte die Schwanenfrau an. »Das ist nicht möglich, Dame Branid.«
Branid rollte in einer grazilen Bewegung die Schultern und wiegte den Kopf. »Ich wiederhole nur, was man so sagt. Und möglich oder unmöglich – hättest du das hier für möglich gehalten?« Ihre Hände flatterten herauf und umfassten mit einer einfachen Drehung alles um sie herum.
Ainfar schüttelte den Kopf und starrte auf sein Essen. »Weißt du mehr darüber, wie sie es dorthin schaffen konnten?«, fragte er so unverfänglich wie möglich, während in ihm ein Aufruhr herrschte.
»Die Königin soll ein Tor geöffnet haben. Aber nur die können durch, die aus irgendwelchen Gründen nicht unter Fanmórs Urteil stehen. Der Kau war schon vorher freiwillig hier, habe ich gehört, darum konnte er gehen.« Sie zuckte die Achseln. »Leider ist es kein Weg für unsereins, oder für die Königin selbst. Aber so, wie es ist, lässt es sich jetzt ja auch hier ganz gut leben.« Sie stieß ihre Silbergabel in ein Nest aus langblättrigem Teichgras und drehte sie.
Ainfar brachte vor Aufregung und neu erstandener Hoffnung kaum mehr einen Bissen hinunter.
Auch er war freiwillig hierher gegangen. Bruder, dachte er, ich komme nach Hause.
Aber bis dahin hatte er noch eine Menge zu tun.
Ainfar drückte sich in den Schatten eines Bogens des Umgangs und sah hinaus in den großzügigen Innengarten. Sattes Grün in allen Tönen bedeckte schimmernden Kristall und staubgedunkelten Fels, der über die Zeiten aufgebrochen und nun mit Moos und Flechten besetzt war, mit Blumen und Büschen bewachsen und von schlanken Bäumen beschattet. Zu Ainfars Rechter schwebte