Führungsinstinkt. Anke van BeekhuisЧитать онлайн книгу.
Empathie komplettiert die für Leader wichtigen Ebenen der Wahrnehmung: rationale Wahrnehmung, dann das sogenannte Bauchgefühl und schließlich die seelische Wahrnehmung. Diese drei Ebenen helfen Leadern, ein Gegenüber – ohne Worte bzw. Dialog – wahrzunehmen und einzuschätzen.
Lust auf ein kleines Experiment, das Sie all das, was wir theoretisch behauptet haben, auch in der Praxis erfahren lässt? Sie brauchen dazu nur 15 Minuten in einer kommenden Besprechung oder einem Teammeeting.
Ihr Auftrag bei dieser Gelegenheit: Suchen Sie sich eine Teilnehmerin oder einen Teilnehmer aus und beobachten Sie diese oder diesen 10 bis 15 Minuten lang bewusst. Wählen Sie eine Person, die sie nicht wirklich kennen, mit der Sie nach dem Meeting aber die Möglichkeit haben, ein kurzes Gespräch zu führen.
Phase 1: Rationale Wahrnehmung
Notieren Sie sich alles, was Ihnen während der Beobachtung auffällt – auch wenn es noch so unbedeutend sein mag: Trägt die Person zum Beispiel eine farblich auf den Rest der Kleidung abgestimmte Krawatte oder Schuhe? Trägt sie die Haare länger als andere Personen im Raum? Wie gepflegt wirken Hände und Fingernägel? Sind die Haare gefärbt?
Phase 2: Emotionale Wahrnehmung
Halten Sie kurz inne und geben Sie dann das »Wahrnehmungszepter« an Ihr Gefühl weiter: Was nehmen Sie jetzt wahr? Wirkt Ihr Gegenüber traurig oder nervös? Spielt sie oder er mit einem Stift oder wackelt mit den Beinen? Fährt sie oder er sich nervös durch die Haare und lässt den Blick unruhig durch den Raum schweifen? Oder ruht sie oder er in sich und bleibt auch körperlich entspannt und ruhig?
Alles, was Sie bis jetzt gesehen haben, sind Fakten und rein subjektive Wahrnehmungen, die sich auf Ihre eigenen Gefühle und Stimmung beziehen und von Ihrer Persönlichkeit (und Ihrem Rucksack) interpretiert wurden. Wichtig ist, dass Sie all diese Wahrnehmungen im Moment und ohne nachzudenken schriftlich festhalten! Nehmen Sie sich dafür 10 bis 15 Minuten Zeit!
Phase 3: Analyse
Nun sollten Sie genug wahrgenommen haben, um mindestens drei Annahmen über das Wesen des beobachteten Menschen formulieren zu können, zum Beispiel diese:
Was zeichnet diese Person aus?
Worin ist sie gut?
Womit hat sie Schwierigkeiten?
Worauf ist sie stolz?
Phase 4: Check
Nach dem offiziellen Ende des Meetings ist es Zeit, Ihre getroffenen Annahmen zu überprüfen und aktiv auf die Person zuzugehen. Stellen Sie sich vor und kommen Sie mit der Person ins Gespräch! Um Ihre Annahmen bestätigt zu bekommen, sind wahrscheinlich gezielte Fragen notwendig, die das Gespräch in die gewünschte Richtung lenken. Wenn Sie also etwa angenommen haben, dass die Person sehr korrekt ist und heute sehr nervös war, fragen Sie einfach »Wie geht es Ihnen?«, »Haben Sie heute noch andere Termine?« oder »Was ist Ihr Spezialgebiet?«. Auch wenn Sie wahrscheinlich keine direkten Antworten auf Ihre Annahmen erhalten werden – es wird genug Input kommen, um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, ob Sie halbwegs richtig oder komplett falsch lagen. Das Wichtigste ist jedoch, dass Sie Ihr Wahrnehmungsvermögen bewusst eingesetzt und reflektiert haben. Denn auch Phase 4 ist bewusstes Wahrnehmen – diesmal allerdings in aktiver Verbundenheit und nicht nur auf dem Fundament Ihres eigenen Rucksacks und Ihrer bisherigen Erfahrungen. Es ist neuer Input, der Ihnen für die Zukunft Mut gibt, wahrzunehmen und nachzufragen.
Sie lernen durch ihre bewusstere Wahrnehmung einerseits andere Menschen besser kennen, andererseits vertrauen Sie wieder öfter Ihren Instinkten. Nur zur Erinnerung, falls Sie noch Bedenken haben sollten: Diese Gabe zur bewussten Wahrnehmung tragen Sie von Geburt an in sich! Als Kind haben Sie dieses Talent zur Wahrnehmung ständig verwendet. Sie konnten gar nicht anders, weil Ihnen andere Mitteln noch nicht zur Verfügung standen. Babys tun nichts anderes, als den ganzen Tag Stimmungen wahrzunehmen. So erkunden sie Menschen um sich herum: Wahrnehmen ohne Urteil. Auf Basis dieser Inputs ziehen sie ihre Schlüsse und agieren dementsprechend.
Gehen Sie also zurück zu Ihren Wurzeln und in eine Zeit, als Ihr Rucksack noch ziemlich leer war. Vertrauen Sie Ihrer Wahrnehmung wieder etwas mehr und holen Sie sich die entsprechende Bestätigung, dass Sie sich auf Ihre Wahrnehmung verlassen können. Denn ein intakter Instinkt ist eines der wichtigsten Tools, die Sie als Leader benötigen!
Ein feiner Unterschied
Ronja und Heiko waren seit einigen Jahren Kollegen in einem großen internationalen Konzern. Auch wenn sie in zwei verschiedenen Ländern arbeiteten und sich – wenn überhaupt – nur einmal im Jahr persönlich sahen, waren sie einander menschlich verbunden. »Auf einer Wellenlänge«, wie man so sagt. Das Bemerkenswerte daran war, dass sie nicht einmal im selben Unternehmensbereich tätig waren, aber dennoch im Rahmen von abteilungsübergreifenden Projekten immer wieder miteinander zu tun hatten. Aber auch über die reine Arbeit hinaus tauschten sie sich ein- bis zweimal pro Woche über Mail, Chat oder Telefon aus. Sie erkundigten sich, wie es beim anderen so läuft, und fragten nach, ob sie einander unterstützen könnten. Und diese Fragen allein waren in gewissen Situationen oft schon die wichtigste Unterstützung von allen.
Speziell Ronja fühlte sich mit einigen Aufgaben manchmal alleingelassen und hatte darüber hinaus noch das Problem, dass sie manchmal mit ihrem geringen Selbstvertrauen zu kämpfen hatte. Da sie an ihrem Standort die Einzige aus ihrer Abteilung war und kein direkter Vorgesetzter vor Ort greifbar war, lag es oft an ihr, Dinge zu gestalten und zu entscheiden – eine Situation, die ihr nicht immer behagte. Und obwohl sie ihre Arbeit gut machte, fehlte ihr noch immer die nötige Sicherheit, um persönlich den entscheidenden nächsten Schritt zu machen und die quälenden Fragen loszuwerden, die sie sich immer wieder aufs Neue stellte: »Bin ich wirklich gut in meinem Job?«, »Sind meine Entscheidungen richtig?«, »Wird meine Leistung anerkannt?«, »Werde ich als Person anerkannt?«
Bei einem wichtigen internationalen Projekt fanden sich Ronja und Heiko wieder einmal in einem gemeinsamen Projektteam wieder. Ronja hatte sogar die Leitung inne, obwohl viele wichtige Persönlichkeiten des Unternehmens auch mit im Team waren, die leider sehr entgegengesetzte Meinungen dazu hatten, welche Schritte man setzen sollte.
Während einer Telefonkonferenz, bei der diese Meinungen aufeinanderprallten, hörten Ronja und Heiko, jeder in seinem Büro sitzend, nicht nur zu, sondern schrieben sich parallel dazu auch über den firmeninternen Chat ihre Eindrücke.
Ronja: »Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus.«
Heiko: »Ich auch nicht, ehrlich gesagt. Jeder will etwas anderes.«
Ronja: »Das Beste wäre, ich melde mich krank und lass andere entscheiden.«
Heiko: »Nicht aufgeben. Alles wird sich klären.«
Doch nach Ende der Telefonkonferenz, in der Ronja wie gewohnt sehr leise und zurückhaltend geblieben war, hatte sich nicht viel geklärt. Also griff sie danach abermals zum Hörer, um persönlich mit Heiko nicht nur über das Projekt, sondern vor allem über ihre eigene Leistung mit jemand zu sprechen, dem sie vertraute und bei dem sie ganz offen sein konnte.
Im Gespräch zu zweit äußerste sie zunächst ihre gewohnten Selbstzweifel. Doch dann lieferte sie plötzlich eine messerscharfe Analyse der Probleme, zeigte Verständnis für die unterschiedlichen Positionen und schlug schließlich nächste Schritte vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Hindernisse, die noch vor Kurzem als unüberwindbar erschienen, beseitigen würden.
Heiko war beeindruckt: »Wahnsinn. Das ist ... genial! Wieso hast du bei der Telefonkonferenz nichts gesagt? Und wieso kannst du es jetzt – nur fünf Minuten später – bei mir?«
Ronjas Antwort: »Weil du mir wirklich zuhörst.«
Sie schickte daraufhin ihre Gedanken in einer Mail an alle Projektbeteiligten, brachte das Vorhaben wieder auf Kurs und Wochen später auch zu einem erfolgreichen Abschluss.
Heiko wurde erst viel später bewusst, dass sein wichtigster Anteil an dem Erfolg gewesen war, seiner Kollegin in einem entscheidenden Moment bewusst eine Möglichkeit gegeben zu haben, sich