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Die Fieberkurve. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.

Die Fieberkurve - Friedrich  Glauser


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Basel…

      Und der Hebel, der als Haupthahn funktionierte, stand schief. Er stand schief und bildete einen Winkel von fünfundvierzig Grad…

      Studer betrachtete wieder das Schloß in seiner Hand. Da hörte er die Kanzelstimme sagen:

      »Falls Sie eine Lupe brauchen sollten, Inspektor, so kann ich mit einer solchen dienen. Ich beschäftige mich nämlich mit Botanik und Geologie und trage darum immer ein Vergrößerungsglas in der Tasche… «

      Der Wachtmeister blickte nicht auf, er hörte die Federn des Klubsessels ächzen, dann wurde ihm etwas in die Hand geschoben – er hielt das Glas vors Auge…

      Kein Zweifel, rund um das Schlüsselloch waren graue Fäserchen zu sehen, besonders am vorstehenden, oberen Rand, so, als habe sich ein Schnürlein an der scharfen Kante gewetzt.

      … Und der Haupthahn bildete einen Winkel von fünfundvierzig Grad!

      Verrückt!… Angenommen, die alte Frau hatte ein Schlafmittel genommen und war darauf in ihrem ledernen Klubsessel eingenickt – wäre es da für den mutmaßlichen Mörder nicht einfacher gewesen, im Vorbeigehen den Haupthahn zu öffnen und sich dann still zu entfernen?… Wenn nämlich ein Mord vorlag…

      Warum unnötig komplizieren? Eine Schnur am Haupthahn anbringen, sie oben über die Gasröhre führen, das Ende der Schnur durchs Schlüsselloch stecken und dann von außen ziehen, ziehen, bis die Schlinge vom eisernen Hebelschlüssel abrutschte und man die Schnur hinausziehen konnte?…

      »Alte Frauen haben einen leisen Schlaf… «, sagte Pater Matthias. Lächelte er? Es war schwer festzustellen, trotz der spärlichen Schnurrbarthaare, die über seinen Mund fielen wie ein feingehäkelter Spitzenvorhang. Aber er hielt den Kopf gesenkt und ließ seine rote Mütze kreisen. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Küchenfenster und um die Tonsur am Hinterkopf glitzerten die kurzen Haare wie Eis…

      »Danke«, sagte Studer und gab die Lupe zurück. Der Pater ließ sie in seiner grundlosen Kuttentasche verschwinden, zog die Tabaksdose hervor, schnupfte ausgiebig und sagte dann:

      »Damals, in Paris, als mir die Ehre zuteil wurde, Ihre Bekanntschaft zu machen, mußte ich so plötzlich aufbrechen, daß es mir versagt geblieben ist, Ihnen andere wichtige Details zu erzählen… « Stocken… »… über meinen Bruder, meinen zu Fez verstorbenen Bruder.«

      »Wichtiges?« fragte Studer und hielt den angebrannten Strohhalm unter die Brissago.

      »Wie man's nimmt.« Der Pater schwieg, spielte mit seiner Scheschia, schien plötzlich einen Entschluß gefaßt zu haben, denn er stand auf, die vertätschte Kappe ließ er auf dem Stuhl liegen und sagte:

      »Ich werde Ihnen einen Kaffee brauen… «

      »Mira… «, murmelte Studer. Er saß auf einem weißgescheuerten Küchenhockerli neben der Tür und hatte die Augen bis auf einen schmalen Spalt geschlossen. Nur die Verwunderung verbergen, dachte er, und besonders die Neugierde! Der Mann dort hatte es darauf abgesehen, ihn zu verwirren. Denn: Tatsache war, daß in dieser Küche vor nicht langer Zeit eine alte Frau ums Leben gekommen war. Aber der Pater schien nicht einen Augenblick an diese Tatsache zu denken, er nahm eine Pfanne, füllte sie am Wasserhahn, stellte sie auf einen Brenner. Dann scheuchte er den Wachtmeister von seinem Hockerli auf, bestieg den Schemel, um den Haupthahn ganz aufzudrehen, nun stand er senkrecht, kletterte herab und sagte zerstreut: »Wo mag wohl der Kaffee sein?«

      Und Studer sah das Holzgestell über dem Gasréchaud in der Küche am Spalenberg und die Blechdosen mit der abgestoßenen Emailglasur: »Kaffee«, »Salz«, »Mehl«. Hier gab es nichts dergleichen. Im Küchenschaft ein roter Papiersack mit Kaffeepulver.

      Ein leiser Knall – der Pater hatte die Flamme unter der Pfanne angezündet. Nun ging er mit weitausholenden Schritten in der Küche auf und ab, die Falten an seiner Kutte zersplitterten, formten sich wieder, und bisweilen, sekundenlang nur, traf den weißen Stoff ein Sonnenstrahl: dann leuchtete die Stelle wie ein frischgeprägter Silberling…

      »Er hat es prophezeit, mein Hellseherkorporal«, sagte Pater Matthias. »Er hat es gewußt… Zuerst die in Basel, dann die in Bern. Und wir beide haben die beiden alten Frauen nicht mehr retten können. Ich nicht, weil ich jedesmal zu spät gekommen bin. Sie nicht, Inspektor, weil Sie ungläubig waren.«

      Schweigen. Die Gasflamme schlug zurück, es pfiff sonderbar dumpf und höhnisch; Pater Matthias behob die Störung.

      »Ich hatte den beiden Frauen geschrieben, sie möchten sich in acht nehmen, es drohe ihnen Gefahr. Ich habe Josepha in Basel besucht, gleich nach meiner Ankunft, das war vorgestern – vorgestern morgen. Am Abend wollte ich noch einmal zu ihr, aber es war spät geworden. Um elf Uhr läutete ich an ihrer Wohnung. Alles war dunkel, niemand öffnete mir.«

      »Roch es nicht nach Gas?« fragte Studer und auch er sprach Schriftdeutsch.

      »Nein.« Pater Matthias beschäftigte sich mit der Pfanne auf dem Herd. Er hatte dem Wachtmeister den Rücken zugekehrt. Das Wasser kochte. Pater Matthias schüttete das Kaffeepulver darein, ließ die Mischung aufkochen, drehte das Gas ab und schüttete mit einer Kelle ein wenig kaltes Wasser in die Brühe. Dann nahm er Tassen aus dem Schaft, murmelte: »Wo hat die alte Frau ihren Schnaps verwahrt? Wo? – Im untern Küchenschrank! – Wollen Sie wetten, Inspektor, daß er im untern Küchenschrank steht?… Sehen Sie!«

      Er füllte die Tassen, tat geschäftig mit: »Bleiben Sie nur sitzen! Lassen Sie sich nicht stören!« Und brachte den Kaffee, den er tapfer mit Kirsch verdünnt hatte, dem Wachtmeister. Es war gespenstisch, fand Studer, das Kaffeetrinken um zehn Uhr morgens in der leeren Wohnung. Es kam ihm vor, als hocke die alte Frau, deren Gesichtszüge ihm unbekannt waren, in dem ledernen Klubsessel und sage: »Servieret-ech ungscheniert, Wachtmeischter, aber denn suechet myn Mörder!«

      Und es war wie ein Weiterspinnen dieser Vision, als Studer fragte:

      »Wie sah sie eigentlich aus, die Sophie Hornuss?«

      Pater Matthias, der wieder seine Wanderung durch die Küche aufgenommen hatte, blieb stehen. Seine Hand fuhr in die unergründliche Tasche seiner Kutte und brachte ein kleines Ding aus rotem Leder zum Vorschein, das wie ein Taschenspiegel aussah. Aber statt des Spiegels sah man beim Aufklappen zwei Photographien.

      Studer betrachtete die Bilder. Das eine stellte die Josepha dar: denn nicht zu verkennen war die Warze neben dem linken Nasenflügel. Nur war das Bild aufgenommen worden, als die Frau noch jung war. Viel Güte lag um den Mund, um die Augen…

      Das andere Bild – Studer wußte gar nicht, daß er sich räusperte, daß er auf die Photographie starrte und starrte…

      Die Augen vor allem: verschlagene, stechende Augen. Ein schmaler Mund – nur ein Strich waren die Lippen in dem jugendlichen Gesicht. Jugendlich? Warum nicht gar! Gewiß, die Photographie stellte eine Frau dar, Mitte der Zwanzigerjahre, aber es war eines jener Gesichter, die nie altern – oder nie jung sind. Beides war richtig. Und noch etwas ließ sich aus dem Bild begreifen: daß der Schweizer Geologe Cleman Alois Victor die Scheidung verlangt hatte. Mit solch einer Frau war nicht gut zusammenspannen!… – Eine hochgeschlossene Bluse, ein Stehkragen mit Stäbli, der das spitze Kinn trug… Und Studer konnte es nicht verhindern, daß ihm ein Frösteln über den Rücken lief…

      Die Augen! Sie waren geladen mit Hohn, mit höhnischem Wissen. Sie schrieen es dem Beschauer entgegen: »Ich weiß, ich weiß viel! Aber ich sage nichts!«

      Was wußte die Frau?

      »Wann hat sich Ihr Bruder scheiden lassen?« fragte Studer und seine Stimme war ein wenig heiser.

      »1908. Und im nächsten Jahr heiratete er wieder. 1910 wurde Marie geboren… «

      »Und 1917 ist Ihr Bruder gestorben?«

      »Ja.«

      Pause.

      Pater Matthias blieb stehen, blickte zu Boden – und dann begann er seine Wanderung aufs neue.

      »Es ist da eine Merkwürdigkeit, die ich vergessen habe, ihnen mitzuteilen. Mein Hellseherkorporal


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