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Die Fieberkurve. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.

Die Fieberkurve - Friedrich  Glauser


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gibt also zu, im Lande gewesen zu sein, dachte Studer. Auch er trägt einen Bart. Gekräuselt kann man ihn zwar nicht nennen, es ist ein Schneiderbart. Aber eine Ähnlichkeit mit der Photographie über dem Bette der Sophie ist unverkennbar – wie komm' ich nur auf so verrückte Gedanken? Der Geologe und der Pater ein und dieselbe Person? – Er starrte wieder auf die beiden Frauenbilder, die auf seinem Knie lagen.

      »Nicht einmal zum Leichenbegängnis meines Bruders habe ich kommen können… Als ich nach einem Monat Fez erreichte, war Victor schon unter der Erde. Nicht einmal sein Grab habe ich besuchen können. Man hatte ihn ins Massengrab geworfen, sagte man mir, eine Blatternepidemie wütete damals gerade… «

      Studer zog sein Ringbuch, um dem Absatz über »Cleman Alois Victor« einen Nachtrag zu geben – da flatterte ein zusammengefaltetes Blatt Papier zu Boden. Der Pater war flinker, er hob es auf und gab es dem Wachtmeister zurück – einen kurzen Augenblick behielt er es in der Hand und betrachtete es aufmerksam… »Danke«, sagte Studer und beobachtete zwischen den Wimpern den Weißen Vater. Er trug, gerade jetzt, seinen Namen nicht mit vollem Recht. Denn seine Gesichtshaut, von der Sonne gebräunt, war grau gefleckt. Und der Wachtmeister hätte jede Wette eingegangen, daß der Mann mit dem Schneiderbärtchen bleich geworden war…

      Warum? Studer steckte das gefaltete Blatt scheinbar achtlos in seine Busentasche. Wie dick sich das Papier anfühlte! Das war ihm in Basel nicht aufgefallen, als er vor der Nase des rosigen Sanitätspolizisten die Fieberkurve kaltblütig eingesackt hatte…

      Pater Matthias hatte also die Fieberkurve wiedererkannt? Wo hatte er sie gesehen? Bei seinem »Hellseherkorporal«?

      Und zum ersten Male stieg in Wachtmeister Studer die Vermutung auf, daß die Geschichte vom Hellseherkorporal, die er als Märchen abgetan hatte, eine Bedeutung haben könne – keine okkulte, keine metaphysische, keine hellseherische, nein! Die Geschichte vom Hellseherkorporal mußte man werten wie einen scheinbar dummen Schachzug, den ein kluger Gegner gemacht hat. Man tut den Zug mit einem Achselzucken ab – aber siehe da: nach sechs, sieben Zügen merkt man, daß man in eine Falle geraten ist…

      Es empfahl sich, alles, was mit dieser Hellsehergeschichte zusammenhing, genau und sorgfältig zu prüfen. Das würde schwierig sein, von hier, von Bern aus. Aber wozu hatte man gute Bekannte in Paris? Madelin, den Divisionskommissär, der von einem Dutzend Inspektoren »Patron« genannt wurde? Wozu hatte man Godofreys, des wandelnden Lexikons, Bekanntschaft gemacht? Zwar auf ein Erblassen allein ließ sich keine Theorie aufbauen. Überhaupt Theorien! Zuerst und vor allem hatte man sich in die g'spässigen Verhältnisse der Familie Cleman einzuleben. Ja! Einzuleben! Dann konnte man weiter sehen.

      Und Studer schrieb unter den Absatz, der von Cleman, Victor Alois, handelte, das Wort: »Massengrab« und unterstrich es doppelt.

      Der Pater stand am Fenster und blickte in den Hof.

      »Eine Blatternepidemie«, sagte er. »Ich verlangte, die Krankengeschichte meines Bruders zu sehen. Alle Krankengeschichten des Jahres 1917 waren vorhanden, selbst die eines namenlosen Negerleins, auf dessen Blatte stand: ›Mulatte, fünfjährig, eingeliefert – Exitus –.‹ Die Krankengeschichte meines Bruders fehlte. Jawohl Inspektor, sie fehlte. ›Wir wissen nicht… ‹ ›Wir bedauern… ‹ Drei Monate nach seinem Tod war die Krankengeschichte nicht mehr zu finden…

      Unwahrscheinlich, nicht wahr?

      Und vierzehn Jahre später sagt mir ein hellseherisch veranlagtes Individuum, nachdem ich es aus der Trance geweckt hatte: ›Der Tote wird die Frauen in den Tod holen. Er will Rache nehmen. Der Tote wird die Frauen in den Tod holen… ‹ Dies wiederholt der Hellseherkorporal, dann beschreibt er meinen Bruder, seinen gekräuselten Bart, seine Brille… Ich weiß, Sie können sich nicht vorstellen, wie das auf mich gewirkt hat, dazu müßten Sie Géryville kennen. Sie müßten mein Zimmer gesehen haben, angefüllt mit grüner Abenddämmerung, das Städtchen rund um mein Haus, den Bled… Bled – das heißt Land auf arabisch. Aber man braucht das Wort auch für die Ebenen, die endlosen, auf denen das dürre Alfagras wächst; nie ist es saftig, es wächst schon als Heu… Und still ist es auf dem Hochplateau! Still!… Ich bin die Stille gewohnt; denn ich habe lange genug in der großen Stummheit der Wüste gelebt… Aber Géryville ist anders. In der Nähe des Städtchens liegt das Grabmal eines Heiligen, eines Marabut, die Hirtenstämme wallfahren zu ihm – schweigend. Sogar die Rufe der Hörner, wenn in der Kaserne die Wache aufzieht, schluckt die große Stille.

      Die Trommeln dröhnen nicht, sie murmeln nur dumpf unter den Schlegeln… Und nun stellen Sie sich vor, in meinem grünlich erleuchteten Zimmer beschreibt ein unbekannter Mensch meinen Bruder, spricht mit seiner Stimme… « Pater Matthias ließ das letzte Wort ausklingen. Plötzlich wandte er sich um – drei weitausholende Schritte – und er stand vor dem Wachtmeister. Dringend fragte er und sein Atem ging schwer:

      »Was glauben Sie, Inspektor? Meinen Sie, mein Bruder sei noch am Leben? Glauben Sie, er stecke hinter diesen beiden düsteren Mordfällen – denn daß es sich um Morde handelt, werden auch Sie nicht mehr leugnen wollen. Sagen Sie mir ehrlich, was denken Sie?«

      Studer saß da und hatte die Unterarme auf die Schenkel gelegt, die Hände gefaltet. Seine Gestalt wirkte massig, schwer und hart wie einer jener Felsblöcke, die man auf Alpwiesen sieht.

      »Gar nüt!«

      Nach dem langen Redeschwall des Paters wirkten die beiden Worte, gesprochen wie ein einziges, als Punkt.

      Und dann stand der Wachtmeister auf. Er hielt seine leere Kaffeetasse in der Hand und ging zum Schüttstein, um sie dort abzustellen. Da packte ihn ein Hustenanfall, der in der kleinen Küche so laut tönte, als habe man in ihr einen Rudel Dorfköter losgelassen. Studer zog sein Nastuch – aber dem Schüttstein hatte er den Rücken zugewandt – und als er das weiße Tuch wieder in der Seitentasche seines Raglan verschwinden ließ, enthielt es einen harten Gegenstand.

      Es enthielt die Tasse, auf deren Grund er einen mit Somnifen vermischten Kaffeerest festgestellt hatte. Aber die Tasse – war ausgespült worden…

      Von wem? Das Inspizieren der Wohnung hatte kaum zehn Minuten gedauert – und hernach saß Pater Matthias im Klubsessel und spielte das Scheschiaspiel…

      Zehn Minuten… Zeit genug, um eine Tasse auszuspülen.

      Aber vielleicht ließen sich auf der Tasse Fingerabdrücke feststellen?…

      »Geht's besser, Inspektor?« fragte Pater Matthias. »Sie sollten etwas gegen Ihren Husten tun!«

      Studer nickte; sein Gesicht war rot und in seinen Augen glitzerten Tränen. Er winkte ab, schien etwas sagen zu wollen, aber das erwies sich als unnötig, denn es klopfte an der Wohnungstür…

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