Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Außerdem hat Gitti ihrem Posten als Hausmädchen ohnedies nicht nachgetrauert. Sie hat nämlich bald darauf geheiratet.«
»Und Margot?«
»Die hat von sich aus gekündigt. Nachdem Frau Harlan Gitti hinausgeworfen hatte, verlangte sie von Margot, dass sie Gittis Arbeit mit übernehme. Diese Zumutung hat sich Margot nicht bieten lassen. Wenn Frau Harlan wenigstens Margots Lohn erhöht hätte – aber davon war nicht die Rede.«
»Und seither wohnt Frau Harlan allein in dem Haus?«
»Ja. Das ist nun über drei Jahre her – dreieinhalb Jahre genau. Frau Harlans Tochter ist ebenfalls ausgezogen. Sie besucht ihre Mutter ab und zu, aber nicht sehr oft.«
»Im Grunde genommen ist das eine traurige Geschichte«, bemerkte Denise. »Die alte Frau, so einsam und allein …«
»Daran ist sie selbst schuld«, sagte die Ladeninhaberin. »Ihr scheint dieses Leben gerade recht zu sein. Sie lässt ja niemanden an sich heran. Ich glaube, außer ihrer Tochter hat seit Jahren kein Mensch mehr das Haus betreten.«
In diesem Augenblick kam eine junge Frau mit einem Einkaufskorb in das Geschäft. Denise und Nick nahmen an, dass sie bereits alles Wissenswerte erfahren hätten, und verabschiedeten sich von der Ladenbesitzerin. Sie konnte nicht ahnen, dass diese gerade das wichtigste Vorkommnis, einen plötzlichen Todesfall im Haus von Frau Harlan, mit keiner Silbe erwähnt hatte.«
Draußen fragte Denise ihren Sohn: »Na, bist du jetzt zufrieden?«
»Nein«, entgegnete Nick prompt.
»Trotzdem bin ich dafür, dass wir jetzt nach Hause fahren. Du weißt nun Bescheid über die näheren Lebensumstände von Frau Harlan. Aus dem, was uns die Frau aus dem Lebensmittelgeschäft erzählt hat, geht klar hervor, dass Frau Harlan nie mit Lucie in Berührung gekommen ist.«
Nick folgte seiner Mutter niedergeschlagen zum Wagen und stieg ein. »Es würde mich interessieren, wieso Frau Harlan so plötzlich das Hausmädchen und die Köchin loswerden wollte«, sagte er, nachdem er eine Weile grübelnd vor sich hingestarrt hatte.
»Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Frau Harlan hatte nicht genügend Geld, um den Lohn zu bezahlen. Oder sie war zu geizig.«
»Aber warum lässt sie niemanden in ihr Haus?«
»Bitte, Nick, hör auf. Ich habe bis jetzt wirklich genug Geduld bewiesen, aber wenn du Frau Harlan und ihr Haus noch einmal erwähnst, kann ich für meine Reaktion nicht mehr einstehen«, warnte Denise.
Nick wusste, dass er den Bogen nicht überspannen durfte. Doch der vage Verdacht, den er gegen Frau Harlan gefasst hatte, ließ ihn nicht mehr los. Er war bei ihm geradezu zu einer fixen Idee geworden.
*
Dr. Anja Frey stand auf dem Bahnhof von Maibach und wartete auf ihre Kusine. Gisela Hiller hatte eine Gallenoperation hinter sich, und Anja hatte sie zu sich eingeladen, damit sie sich bei ihr gründlich erholen sollte.
Der Zug lief ein. Nur wenige Reisende stiegen aus, unter ihnen Anjas Gast.
Die Ärztin eilte auf Gisela zu, um sie freundlich zu begrüßen. Dann gingen die beiden Frauen zusammen zu Anjas Wagen, der in einer Seitengasse parkte.
Gisela fühlte, dass Anja sie verstohlen musterte, und meinte lächelnd: »Es ist beinahe zwei Jahre her, seit wir uns das letzte Mal sahen. Na ja – jünger bin ich nicht geworden.«
»Was soll diese Bemerkung!«, rief Anja. »Du willst doch nicht andeuten, dass dich dein hohes Alter drückt? Du bist erst achtundzwanzig. Aber ich gebe zu, dass ich dich soeben mit Besorgnis betrachtet habe. Man sieht, dass dich die Krankheit angegriffen hat. Ich hoffe sehr, dass es dir bei uns gefallen wird und dass du dich bald erholst.«
»Oh, da bin ich ganz sicher«, erwiderte Gisela. »Wenn ich mit dir zusammen bin, muss ich unwillkürlich an unsere Kindheit denken. Kannst du dich noch an den Urlaub erinnern, den wir gemeinsam mit unseren Eltern an diesem kleinen See verbrachten, wo mein Bruder Hans uns Kaulquappen in den Ausschnitt steckte?«
»Und ob ich mich erinnern kann. Es war Tierquälerei!« Beide lachten.
Während der kurzen Fahrt nach Wildmoos, wo Anja wohnte und zusammen mit ihrem Mann ihre Praxis hatte, schwelgten die beiden in alten Erinnerungen.
Als sie in Wildmoos ankamen, wurde Gisela von Dr. Stefan Frey und Filzchen, dem Töchterchen des Doktorpaares, herzlich willkommen geheißen.
Dann wandte sich Stefan an seine Frau: »Ich werde Gisela ihr Zimmer zeigen und die Koffer hinauftragen. Du kannst gleich weiterfahren nach Sophienlust. Schwester Regine hat angerufen …«
»Es ist doch hoffentlich keines der Kinder ernsthaft erkrankt?«
»Nein, es ist kein dringender Fall. Aber ich habe Schwester Regine versprochen, dass du heute noch hinkommst. Es handelt sich um das kleine Mädchen, dessen Foto in den Zeitungen veröffentlicht wurde. Allem Anschein nach haben sie in Sophienlust Probleme mit dem Kind und brauchen deine Hilfe.«
»Ich habe das Bild des Kindes im Fernsehen gesehen«, sagte Gisela. »Es tut mir leid. Es hatte so einen traurigen und rührenden Ausdruck.«
»Ich werde es mir ansehen und euch dann von ihm erzählen«, meinte Anja. »Du bist mir doch nicht böse, wenn ich gleich fahre, Gisela?«
»O nein. Ich werde inzwischen meine Sachen auspacken. Hilfst du mir dabei, Filzchen?«
»Gern«, erwiderte Filzchen, die eigentlich Felizitas hieß und sechs Jahre alt war. »Aber zuerst musst du Stoffel kennenlernen. Stoffel! Stoffel! Wo steckt denn der Hund bloß?«
Es stellte sich schließlich heraus, dass Filzchen den Spaniel irrtümlich im Kinderzimmer eingeschlossen hatte. Er nahm es ihr jedoch nicht übel, da er bald befreit wurde und überdies Giselas Bekanntschaft machen durfte.
Gisela hatte für Filzchen ein Geschenk mitgebracht, einen großen Legobaukasten. Natürlich wollte das Kind sofort damit spielen. Gisela erfüllte ihm den Wunsch, und bald waren die beiden damit beschäftigt, bizarre Gebäude zu errichten, wobei Stoffel interessiert zusah.
So verging die Zeit bis zu Anjas Rückkehr wie im Fluge. Gisela und Filzchen bemerkten gar nicht, dass Filzchens Mutter ins Zimmer trat, so vertieft waren sie in ihr Spiel.
»Na, ich sehe, ihr habt euch nicht gelangweilt«, sagte die Ärztin.
»Nein, gar nicht«, sagte Gisela lächelnd. Sie hätte gern etwas über das Kind, das Anja in Sophienlust besucht hatte, erfahren, aber die Ärztin berichtete darüber erst, als Filzchen schlafen gegangen war.
Es war Stefan, der seine Frau dazu aufforderte. »Was war eigentlich los mit dem kleinen Mädchen?«, fragte er.
»Mit Lucie? Das ist nicht einfach zu erklären. Es ist so schwer, an sie heranzukommen. Dazu wird viel Zeit und Geduld notwendig sein. Für heute habe ich nur einen Erfolg anzuführen: Ich war in der Lage, Schwester Regines Befürchtungen zu zerstreuen.«
»Was hat sie denn befürchtet?«
»Dass Lucie geisteskrank sein könnte.«
»Wie schrecklich«, rief Gisela.
»Wie kommt Schwester Regine zu dieser Vermutung?«, fragte Stefan.
»Es lässt sich nicht leugnen, dass Lucie anders ist. Sie ist mit normalen Maßstäben nicht zu messen, aber Gott sei Dank bestimmt nicht geisteskrank. Sie ist seelisch gestört. Es wird nicht leicht sein, ihr zu helfen.«
»Wie äußert sich diese seelische Störung?«
»Sie spricht nicht. Es ist kein Wort aus ihr herauszubekommen. Dabei ist sie gewiss nicht dumm und auch nicht ungeschickt. Schwester Regine hat mir erzählt, dass sie wie ein Erwachsener isst und überhaupt sehr selbständig ist. Sie wäscht sich allein und zieht sich auch ohne Hilfe aus und an. Bei einem so kleinen Kind ist das erstaunlich.«
»Nun, dass sie allein zurechtkommt, ist doch kein Fehler!«
»Nein.