Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
nur vier Pässe im Wagen. Übrigens kamen die Möllendieks aus Schweden.«
»Haben Sie schon daran gedacht, dass Anja verletzt sein könnte?«
»Es gehört zu unseren Vorschriften, Verkehrsgeschädigte unverzüglich zum Arzt zu bringen. Das ist natürlich auch in diesem Falle geschehen. Der Unfallarzt des Krankenhauses in Maibach hat das Kind untersucht und festgestellt, dass es, außer einigen leichten Hautabschürfungen, keinerlei Verletzungen hat.«
»Ich werde trotzdem Frau Dr. Frey bitten, sich das Kind noch einmal anzusehen. Irgendwie kam es mir verkrampft und sonderbar vor.« Frau Rennert erhob sich.
»Nach allem, was Anja erlebt hat, scheint mir das nicht verwunderlich«, murmelte der junge Polizist. Ihm war klar, dass er nun zu gehen hatte. Es war schon spät, und er konnte die freundliche Heimleiterin schließlich nicht noch länger aufhalten. Dabei hätte er Anja zu gerne noch einmal gesehen.
»Darf ich …, darf ich morgen wiederkommen, um mich nach der Kleinen zu erkundigen?«, stotterte er verlegen.
»Selbstverständlich.« Frau Rennert reichte dem Beamten die Hand.
*
Angestrengt lauschte die kleine Heidi Holsten in die Dunkelheit. »Hörst du nicht?«, wisperte sie ihrer Zimmerkameradin Vicky zu. »Da plätschert doch das Wasser im Bad.«
Vicky Langenbach gab keine Antwort, denn sie schlief tief und fest.
Heidi richtete sich auf und stellte enttäuscht fest, dass sich Vicky kein bisschen bewegte. Tief und gleichmäßig waren ihre Atemzüge.
»Da hat doch jemand vergessen, das Wasser abzudrehen«, murmelte die Kleine. Wie alle Kinder von Sophienlust fühlte sie sich für alles in und um das Haus verantwortlich. Sie kletterte aus dem Gitterbettchen und lief auf bloßen Füßen durch das Zimmer. Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie die Türklinke vorsichtig nach unten drückte. Oh, draußen auf dem Flur brannte ja Licht. Und drüben im Zimmer von Schwester Regine war es auch noch hell. Kamen da nicht Stimmen aus dem Badezimmer? Ja, das war doch Schwester Regine!
Bedeutend mutiger trippelte Heidi weiter. Sie wusste, wenn Regine Nielsen in der Nähe war, konnte ihr nichts passieren.
Heidi steckte ihren Kopf durch den Spalt der Badezimmertür und blinzelte ein wenig schläfrig ins Licht. Eben seifte Schwester Regine gewandt und sicher ein kleines Mädchen ab. Heidi war ganz sicher, dass sie dieses Kind noch nie gesehen hatte. Neugierig trippelte sie näher.
»Heidi, schläfst du denn noch nicht?« Schwester Regine, die die kleine Nachtwandlerin sofort bemerkte, wollte Heidi zunächst mit einigen strengen Worten ins Bett zurückschicken. Doch die Kleine sah in ihrem langen Nachthemd mit dem offenen blonden Haar und den erstaunt dreinschauenden blauen Augen so allerliebst und unschuldig aus wie ein Engelchen. Der Verweis blieb angesichts dieses süßen Anblicks unausgesprochen.
»Ich wollte …, ich dachte …« Heidi sah interessiert auf die neue Kameradin und vergaß das, was sie als Entschuldigung hatte vorbringen wollen. »Wer ist das?«, fragte sie mit schiefgelegtem Köpfchen.
»Anja. Sie wird einige Zeit bei uns bleiben«, erklärte Schwester Regine, obwohl sie das selbst nicht so genau wusste. »Sie ist nur ein Jahr älter als du. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.« Schwester Regine brauste das Kind ab und schlug ein weiches Badetuch um den kleinen zitternden Körper.
Zutraulich kam Heidi näher. »Darf sie bei Vicky und mir im Zimmer schlafen? Da ist doch noch ein leeres Bett.«
»Möchtest du das denn?« Schwester Regine hob das Kind aus der Wanne und setzte es auf einen Stuhl. Behutsam rieb sie Anjas blonde Haare trocken.
»Ja!« Heidi hüpfte begeistert auf und ab.
»Dann werden wir morgen Tante Isi fragen. Heute schläft Anja in meinem Zimmer.«
Heidi nickte verständnisvoll. Natürlich wusste sie, dass in Schwester Regines Zimmer ein Kinderbett stand, das gewöhnlich dann benutzt wurde, wenn Neulinge kamen oder wenn eines der Kleinen schwer krank war.
»Warum ist Anja so traurig?«, fragte sie und kam noch etwas näher. Aufmerksam sah sie in Anjas große dunkle Augen.
Schwester Regine, die selbst noch nichts über das Schicksal des neuen Kindes wusste, überging diese Frage. »Heidi wird dir morgen das Haus, den Park und die Stallungen zeigen, Anja«, sagte sie. »Du wirst staunen, was es hier alles zu sehen gibt. Wir haben eine Menge Tiere.« Liebevoll rieb sie das Kind ab und zog ihm ein Nachthemd über den Kopf.
»Ponys und Hunde und Habakuk«, kreischte Heidi voll Begeisterung.
»Ja. Und drüben im Tierheim gibt es einen richtigen kleinen Zoo.« Eigentlich war Schwester Regine jetzt ganz froh, dass Heidi ihr half, den neuen kleinen Gast ein wenig von seinem Kummer abzulenken. Denn dass Anja schweres Leid widerfahren war, fühlte sie deutlich. Fest pressten sich die Lippen der Kleinen aufeinander. Regungslos, fast teilnahmslos war ihr Gesichtchen. Der Blick der großen dunklen Kinderaugen ging oft in geheimnisvolle Ferne. Woran dachte Anja nur? Fast konnte man Angst bekommen, wenn man ihre unnatürlich weit geöffneten Augen sah. Keine Träne stahl sich daraus hervor. Das blasse Gesichtchen wirkte fast starr und leblos.
»Habakuk ist ein Papagei. Er kann richtig sprechen«, plapperte Heidi. »So wie du und ich.« Doch plötzlich wurde die Kleine nachdenklich. Sie zog Schwester Regine an der blütenweißen Schürze. »Sie spricht nicht mit mir«, flüsterte sie. »Warum sagt sie kein einziges Wort?«
Jetzt fiel das auch Schwester Regine auf. Anjas Benehmen war seltsam. Kinder in ihrer Lage weinten, schrien und jammerten gewöhnlich. Doch Anja war stumm wie ein Fisch. In ihren großen dunklen Augen schien sich aber das Leid der ganzen Welt zu spiegeln.
»Anja, wir möchten dir so gern helfen«, sagte Schwester Regine mit liebevoller, schmeichelnder Stimme. »Erzähl uns doch, was dich bedrückt.« Die Kinderschwester nahm die Kleine mütterlich in die Arme und streichelte das blasse traurige Gesichtchen.
Heidi beobachtete diese Bemühungen mit angehaltenem Atem. Keine Sekunde lang wandte sie den Blick von Anjas fest zusammengepressten Lippen. »Du kannst Schwester Regine alles erzählen. Sie sagt es keinem weiter«, ermunterte sie die neue Spielgefährtin.
Anjas kleiner Mund bewegte sich nicht. Stur schaute sie auf die glänzenden Wandkacheln. Doch sie nahm nichts aus ihrer Umgebung wahr. In Gedanken hörte sie noch immer jenen schrecklichen Knall, jenes unheimliche Krachen, Splittern und Bersten, dem eine entsetzliche Stille gefolgt war. Halb gelähmt vor Furcht war sie auf allen vieren zu dem Haufen rauchenden Blechs gekrochen, das zuvor ein schmuckes Auto gewesen war. Vati, Mutti und Lars, wo waren sie? Anja hatte schreien wollen, aber jeder Laut war in ihrer Kehle stecken geblieben. Dann hatte ein greller Blitz die gespenstische Szene erhellt. Das Grauen, das Anja in diesen Sekunden erfasst hatte, spiegelte sich noch jetzt in ihren Augen.
Der kleinen Heidi war plötzlich kalt. Sie tappte hinauf auf den Flur. Dort saß Stupsi, der zottige hellbraune Teddybär, der schon so viele Kinder getröstet hatte, in einem Korbsessel. Heidi drückte ihn an sich und lief zurück.
»Hier, du darfst ihn haben.« Auffordernd streckte sie das Spielzeug der kleinen Anja entgegen. »Willst du hören, wie er brummen kann?« Heidi drehte den Teddy um und strahlte, als er ein langgezogenes »Öhhh« von sich gab. »Halte ihn doch!«
Nur zögernd griff Anja nach dem Kuscheltier mit dem langhaarigen Fell.
»Stupsi heißt er«, erklärte Heidi eifrig. »Sag doch mal ›Stupsi‹.«
Anja schmiegte sich eng an Schwester Regine. Die kleine Heidi, die sich so eifrig um sie bemühte, gefiel ihr sehr. Warum sollte sie ihr nicht den Gefallen tun?
Anja öffnete den Mund, wollte Stupsi sagen. Ihre Lippen bewegten sich, doch es kam kein einziger Laut aus ihrer Kehle.
Schwester Regine, die das Kind aufmerksam beobachtet hatte, erschrak so sehr, dass ihre Knie zu zittern begannen. Auch Heidis eben noch strahlendes Gesichtchen wurde schlagartig ernst. Ängstlich forschten ihre blauen Kinderaugen im Gesicht der Kinderschwester. Welche