Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
wenn die schreckliche Erinnerung Besitz von ihr ergreifen wollte. Rasch befolgte sie den Rat von Tante Isi, an etwas anderes, an etwas Schönes zu denken. Sie stellte sich Onkel Hans vor, wie er sie lachend in die Arme schloss und hochhob. Übermütig schwenkte er sie über seinem Kopf hin und her. Und sie dachte an Tante Grit, die so wunderschöne blonde Haare hatte und so sanft und lieb war. Ja, Tante Grit hatte sie lieb. Fast so lieb wie ihre Mami. Tante Grit hatte gesagt, dass sie nun zusammenbleiben würden. Wann würde sie wiederkommen?
Vielerlei Sehnsüchte stritten in dem kleinen Mädchen, das so Furchtbares erlebt hatte, miteinander. Anjas dunkle Augen füllten sich mit Tränen. Sie liefen über die dicken Bäckchen, tropften auf das leichte Kleidchen.
Frau Rennert beobachtete ihre Schützlinge genau. Sie ahnte, dass sich Anja ausgestoßen fühlte, weil sie sich nicht äußern konnte wie ihre Spielgefährten, die nun alle durcheinanderschrien. Sie nahm Anja wie ein Kleinkind auf ihren Schoß und drückte sie liebevoll an sich. »Nicht traurig sein, Anja. Unsere Schreihälse beruhigen sich gleich wieder. Und dann haben sie auch wieder Zeit für dich. Du weißt doch, dass wir dich hier sehr lieb haben.«
»Glaubst du, wir sollten doch noch einmal aufpassen droben an der Pferdekoppel?«, tuschelte Fabian währenddessen Nick ins Ohr. »Es muss ja nicht nachts sein.«
Der große Junge schüttelte müde den Kopf. »Wir haben Vati versprochen, nichts mehr zu unternehmen«, meinte er resignierend.
»Wir können doch ganz zufällig vorbeikommen.« Fabian ließ sich von seinem Vorschlag nicht so schnell abbringen.
»Wenn man sein Wort gegeben hat, muss man es auch halten«, belehrte Nick den Jüngsten.
»Aber wenn diese Verbrecher noch mehr Pferde stehlen?«, überlegte Fabian.
Nick zuckte die Achseln. »Mein Vati hat bestimmt die Polizei benachrichtigt. Sie wird die Diebe schon stellen.«
»Glaubst du?« Fabian war skeptisch.
»Wenn ich einmal groß bin, werde ich Polizist«, erklärte Peter, der aufmerksam zugehört hatte. »Dann fange ich die bösen Diebe.«
»Das dürfte ein bisschen zu lange dauern.« Pünktchen lachte herzlich.
*
Diesmal sonderte sich Anja absichtlich von den anderen Kindern ab. Während die anderen Völkerball spielten, musste sie immerzu an den Mann denken, der Patricius mitgenommen hatte. Niemand außer ihr wusste, wann er es getan hatte. Und niemand ahnte, dass er nicht den Weg vom Dorf heraufgekommen war, sondern geradewegs aus dem Wald. Anja hätte auch Auskunft darüber geben können, weshalb die Polizei auch diesmal wieder keinerlei Spuren fand, doch sie konnte ja nicht sprechen und sich überhaupt nicht verständlich machen.
Langsam stapfte Anja bergan. Irgendwo da oben lag noch der Nelkenstrauß, den sie am Tag zuvor vor lauter Aufregung hatte fallen lassen.
Anja war froh, dass sie von den anderen Kindern nicht vermisst wurde. Wie von einer geheimnisvollen Macht angezogen, ging sie wieder an dem Bächlein entlang. Dabei sah sie immerzu in die Richtung, aus der der Dieb gekommen war. Sie hatte ihn zwar nur von Weitem und auch nur von hinten gesehen, doch sie war ganz sicher, dass sie die Gestalt wiedererkennen würde.
Anja war jetzt bereits in Höhe der Koppel und sah den Holzzaun zwischen den Bäumen und Sträuchern schimmern. Da war auch wieder der Mann, der einige Latten auswechselte. Aber jetzt wurde er gerufen. Langsam stieg er bergab.
Anja stellte sich auf einen abgesägten Baumstamm, um besser sehen zu können. Doch plötzlich fühlte sie etwas Hartes in ihrem Rücken. Sie wurde blitzschnell herumgedreht und sah in ein bärtiges Männergesicht.
»Was hast du hier zu schaffen, kleine Kröte?«, keuchte eine dunkle furchterregende Stimme.
Anja wollte vor Schreck aufschreien, doch sie bekam nicht einen einzigen Laut heraus.
»Aha, du bist’s! Ausgerechnet du! Na, mir kann’s recht sein. Du kannst wenigstens keinem etwas erzählen.«
Die Hand, die Anja noch immer hinten am Kleid festhielt, griff noch härter zu und schüttelte die Kleine.
Angstvoll sah Anja in das wutverzerrte Gesicht des Mannes.
»Wehe, wenn du jemanden hierherführst. Und wenn du zu berichten versuchst, dass du jemanden hier getroffen hast, dann bringe ich dich um. Weißt du, was das heißt? Es ergeht dir dann genauso wie deinem Vater, deiner Mutter und deinem kleinen Bruder. Nur mit dem Unterschied, dass du langsam sterben wirst. So etwa!«
Die Hände des Mannes legten sich um Anjas zarten Hals und drückten langsam immer stärker zu. Das Kind wand sich in panischer Angst und rang nach Luft.
»Du hast mich niemals hier gesehen, ist das klar? Du wirst überhaupt keinem sagen, dass du hier oben an der Koppel warst. Ich lasse mir von einer kleinen miesen Kröte, wie du es bist, die Tour nicht vermasseln, das merke dir! Und wenn du nicht gehorchst, hast du die längste Zeit geatmet!«
Anja hustete und bäumte sich in wilder Panik auf. Doch gegen den Griff dieses Mannes konnte sie nichts, aber auch gar nichts ausrichten.
»Überlege dir gut, was du tust. Du bist die letzte deiner Familie, und es wäre für manche Leute gar nicht ungeschickt, wenn es dich nicht mehr gäbe. Aber das wirst du nicht verstehen. Du weißt ja nicht, wie gut es ist, viel Geld zu haben.« Der Mann grinste höhnisch.
Anja wusste nicht, in welcher Gefahr sie schwebte. Trotzdem hatte sie wahnsinnige Angst vor dem Mann. Sie setzte all ihre Kräfte ein, um freizukommen, doch es gelang ihr nicht.
Der Mann, der die Kleine noch immer hinten am Kleid festhielt, schien eine satanische Lust daran zu haben, zuzusehen, wie das stumme Kind sich quälte, wie es zu schreien versuchte, wie es wild um sich schlug. Doch das war ihm noch nicht genug. Er wollte das Grauen mehren.
»Wie bist du überhaupt hierher gekommen?«, zischte er böse. »Weißt du denn nicht, dass es im Wald von wilden Wölfen wimmelt? Wenn du noch einmal hierher kommst, werden sie dich zerreißen. Sie werden sich über dich stürzen und dich auffressen. Kein Stückchen wird übrig bleiben.«
Der Fremde hatte dumpf und drohend gesprochen. Dabei hatte er das Kind hasserfüllt angesehen. Es war mehr dieser böse Blick, der Anja all ihre Kräfte aufbieten ließ. Sie trat gegen den Mann, warf sich gleichzeitig ruckartig nach vorn.
Das, was sie selbst nicht vermutet hatte, geschah. Sie kam frei. Kopfüber stürzte sie auf den Waldboden. Sie fühlte Erde und Pflanzenteile in ihrem schreckensweit aufgerissenen Mund, spürte stechende Schmerzen in beiden Knien, und hinter ihr lachte schadenfroh der Mann. Doch Anja achtete auf das alles nicht. Sie krabbelte hoch und rannte quer durch den Wald zurück, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Noch immer glaubte sie den Atem des Mannes hinter sich zu hören, sah sie in Gedanken seine ausgestreckten Hände, die nach ihr greifen wollten.
Sie stürzte über einen Stein, fiel in das Bächlein. Doch sie spürte gar nicht, dass sie durchnässt war. Kopflos hastete sie weiter. Sie stolperte über eine Baumwurzel, fiel in einen Graben. Und mit jeder Verletzung steigerte sich ihre Panik. Panik, die sich keinen Ausgleich durch Rufen oder Schreien verschaffen konnte.
In wilder Hast lief Anja weiter. Da war ein steiler Abhang. Anja sah gar nicht, dass sie sich an der ungünstigsten Stelle befand. Nur glatten Fels, bewachsen mit niedrigem Moos, gab es hier. Nichts, worauf die Füße hätten Sicherheit finden können. Anja hielt sich an den herabhängenden Zweigen einer Buche fest, doch ihre Füße rutschten ab, die Hände verloren den Halt.
Anja kullerte den Abhang hinab, überschlug sich und blieb liegen.
*
Voll Ungeduld ging Grit durch das große Haus ihres Verlobten, das schon in wenigen Tagen auch ihre Heimat sein sollte. Dann würde sie Davids Frau sein, würde hier mit ihm leben.
Grit hatte sich in den vergangenen Wochen sehr auf diese Zeit gefreut. Sie hatte Pläne gemacht, um dem luxuriösen Heim eine persönliche Note zu geben, um es gemütlicher zu gestalten. Doch heute, da sie viel Zeit für derartige Dinge hatte, dachte