Einführung in die systemische Sexualtherapie. Karina Kehlet LinsЧитать онлайн книгу.
und »feminin« sind im Grunde relative Begriffe, weil sie miteinander in Beziehung stehen, sie ergeben nur Sinn im Vergleich zum anderen. Es wird dann unvermeidbar, dass auch normative Definitionen von Sexualität durch diese Beziehung strukturiert werden und eine Privilegierung von Heterosexualität nach sich ziehen. Es kommt dadurch zu einer Art institutionalisierter Heterosexualität. Bei Menschen, die den durch diese Begriffe geprägten scheinbaren Rahmen von Männlichkeit und Weiblichkeit verletzen oder gar sprengen, indem sie zum Beispiel einen mehr androgynen oder nonbinären Eindruck vermitteln bzw. sich transgeschlechtlich fühlen, geht es um die ultimative Grenzüberschreitung, die auf viele so herausfordernd wirkt (Weeks 2017). Es geht gegen alles, was wir gelernt haben. Aber auch die große Mehrheit der anderen leidet unter dieser heterosexuellen Norm, die z. B. beinhaltet, wie ein »echter« Mann zu sein hat. Wir sind irgendwie alle Abweichungen von dem perfekten Ideal, der uns vorgeführt wird, versuchen uns aber so gut wie möglich anzupassen.
1.1.1Es gibt nur ein Geschlecht
Gerade die weibliche Sexualität war dabei schon immer ein Problem und für viele Sexualwissenschaftler im Westen ein Rätsel. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert gab es außerdem nur ein Geschlecht, nämlich das männliche, und Frauen wurden als umgekehrte Version der Männer gesehen (Laqueur 1990). Historisch betrachtet ist also das Verständnis von zwei Geschlechtern relativ neu. Seit dem 18. Jahrhundert gilt vorrangig die Sichtweise, dass Frauen – und ihre Sexualität – grundlegend anders seinen als Männer, aber ihre Sexualität im Prinzip die männliche ergänze. Das heißt reaktiv vs. spontan, responsiv vs. aktiv, hervorgerufen durch einen »Fortpflanzungsinstinkt« oder durch die Kompetenz des Werbers (Weeks 2017).
Diese Idee hat sich in vielen Bereichen unserer Gesellschaft durchgesetzt und lässt sich nicht einfach löschen. Auch in mancher Forschung werden biologische Argumente benutzt. Deren evolutionäre Perspektive kennt viele Anhänger und ist gleichzeitig zutiefst konservativ in den Auswirkungen. Obwohl diese Perspektive durchaus nützlich sein kann, ist ihr Wert begrenzt, wenn man damit menschliche Sexualität erklären will. Deren Einzigartigkeit liegt ja gerade darin, dass sie sich weit von der Fortpflanzung entkoppelt hat und man auch in Zeiten, in denen die Sexualität nicht zu Fortpflanzung führen kann, sexuell interessiert und erregt sein kann (von Sydow u. Seiferth 2015).
1.1.2Die evolutionäre Perspektive
Wenn man der biologischen und evolutionären Perspektive folgt, dass Männer einen Trieb besitzen, um für reproduktive Zwecke so viel Samen wie möglich zu verbreiten, und Frauen ein Interesse daran haben, ihre Energie für Schwangerschaften zu bewahren, und deswegen von Natur aus monogam angelegt sind, sind feministische Wünsche nach Gleichberechtigung utopisch und eine klare Rollenverteilung der beiden Geschlechter ergibt Sinn (Weeks 2017). So einleuchtend die evolutionäre Perspektive erscheinen kann, genauso schwierig ist es, ihr Gegenteil zu beweisen.
Aber auch die evolutionäre Theorie ist eben eine solche und nicht beweisbar – sie ist allerdings in höchstem Maße suggestiv. Es stimmt, dass Männer im Durchschnitt sexuell aktiver sind, und vielleicht liegt es an den Genen. Aber es könnte genauso gut etwas mit unserer Kultur zu tun haben. Durchschnittszahlen sind gleichzeitig wahr und dennoch nicht sehr hilfreich. In der realen Welt, in der wir leben, ist alles etwas komplexer (Weeks 2017).
Während einzelne Forscher Erregbarkeit weiterhin dichotomisch verstehen – männliche Erregung als spontan, die weibliche als responsiv –, vertritt die jüngere Forschung die Ansicht, dass Erregbarkeit nicht geschlechtsspezifisch sei. Stattdessen könne Erregbarkeit besser erklärt werden durch die Erregung fördernde oder hemmende Faktoren, wobei die einzige Differenz die Stärke des Stimulus sei (Meana 2010). Aber viele Menschen fühlen sich von dem Thema und den möglichen Folgerungen überwältigt und bevorzugen weiterhin einfache Antworten auf schwierige Fragen.
1.1.3Gesellschaftliche Einflüsse auf das Sexualverhalten
Wenn bei Partnern eine Diskrepanz in Bezug auf das Begehren vorliegt, passiert es vor allem bei heterosexuellen Paaren häufig, dass die Frau Sex nicht unbedingt als etwas sieht, das sie für sich tut. Es hat sehr viel mit der oben genannten »Erzählung« zu tun, dass Männer die sexuell Aktiven seien und Frauen die Passiven. Tatsächlich bewirkt solch eine Vorstellung, dass viele Frauen an Sex als etwas denken, das sie für jemand anderen tun; als Gefallen, um den Beziehungsfrieden nicht zu stören oder um das Ego des Partners zu schützen. Frauen ordnen nicht selten ihre Bedürfnisse denen des Partners unter, und ihre eigene Lust scheint ihnen eine ziemlich komplizierte Angelegenheit zu sein (Stirn u. Pika 2016). Das hat u. a. damit zu tun, auf welche Art viele Mädchen immer noch erzogen werden und welche Werte und Botschaften sie von Haus aus mitbekommen. Zusätzlich verstärkt werden diese durch das dominante Narrativ in den Medien. Jugendliche werden schon vor und während der Pubertät heterosexuellen »Drehbüchern« und Skripten ausgesetzt, in denen schwule, lesbische oder bisexuelle Personen höchstens im Hintergrund auftreten, wodurch die Heterosexualität als Norm umso klarer hervortritt. So kommt es heutzutage zu einer ungewöhnlich frühen expliziten und offensiven heterosexuellen Sozialisation (Schmidt 2014).
Selbstverständlich fördert dies die gefährliche Erzählung, dass für Männer Sex das Wichtigste wäre, für Frauen jedoch die Beziehung. Frauen werden nicht erzogen zu denken, dass Sex für sie gut sei, sondern dass es etwas sei, worin sie gut sein müssen. Ein süßes Mädchen ist eines, das für andere da ist, und entwickelt sich nicht zu einer Frau, die Sex liebt! Und wer kann schon die Leidenschaft am Leben halten, wenn es dein Ziel sein soll, anderen zu gefallen (Ogden 2008)? Wenn man mit der Botschaft groß geworden ist, dass man als Frau eigene Wünsche und Bedürfnisse zur Seite stellen sollte, kann es sehr schwierig werden, mit der eigenen Sexualität in Kontakt zu bleiben. Außerdem haben viele Mädchen schon im jungen Alter sexuelle Beziehungen, um den anderen einen Gefallen zu tun, während sie selber dafür noch nicht bereit sind und nicht wissen, welche Bedingungen für sie wichtig sind, um Sex genießen zu können (van Lunsen e. Laan 2017).
Frauen können außerdem schnell das Gefühl bekommen, dass es sich hierbei nur um kleine Opfer handelt, die man um des lieben Friedens willen bringt. Aber wenn diese aufopferungsvolle Einstellung sich auf die Sexualität bezieht, ist dies ein sicherer Weg, um auf die Dauer sexuell uninteressiert zu werden und am Ende gar kein Begehren mehr zu spüren. Wenn jemand sich selber ein paar Mal so in die zweite Reihe gestellt hat, indem er oder sie nur das macht, was der Partner möchte, kann ein Mangel an sexuellem Vergnügen zu einem Teufelskreis werden (Hall 2004).
Abb. 1: Teufelskreis
Dazu kommt noch die Tatsache, dass sehr viele Frauen frühe Erfahrungen mit übergriffigem Verhalten haben, das vielleicht keine direkte Kinderschändung oder Vergewaltigung, aber trotzdem grenzüberschreitend war und dazu beigetragen hat, dass sie glauben, dass Männer von Frauen vor allem Sex wollen. Und zu viele Mädchen und Frauen haben Sex mit dem Ziel, ein Verhältnis zu beginnen, zu bewahren oder wiederzubeleben. Dann ist Sex kein intimer Akt mehr, sondern wird instrumentalisiert, als Mittel zum Zweck (Hall 2004). Manche Frauen können es kaum aushalten zu wissen, dass ihr Mann sich schwer damit tut, sexuell abgewiesen zu werden, und meinen dann, sie müssten seinetwegen bald Sex haben. Das Problem bei solchen Gedankengängen (und noch mehr bei deren Umsetzung) ist, dass es die Frau noch weiter von ihrer eigenen Lust entfernt und einem erstickenden Pflichtgefühl für Sex näherbringt.
1.1.4Frauen kommen zu kurz
Die meisten Menschen tun nicht das, wonach sie sexuell verlangen, sondern das, von dem man ihnen beigebracht hat, dass sie es tun sollten (Perel 2016). Ein Mangel an Lust bedeutet z. B. nicht unbedingt einen Mangel an Sexualität: Ein großer Teil der heterosexuellen Frauen