Weiter leben!. Christine LeutkartЧитать онлайн книгу.
zu und sprach mich an: „Frau S., Ihr Mann hatte mit dem Motorrad einen Unfall.“ „Was hat er denn?“, fragte ich besorgt. An das Schlimmste habe ich da noch nicht gedacht. Gemeinsam gingen wir in mein Zimmer und ich setzte mich auf das Bett. Der Seelsorger nahm meine Hände und sah mich an: „Ihr Mann ist tödlich verunglückt“, erklärte er mir. „Er lebt nicht mehr.“ Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was dann war, aber vermutlich habe ich geschrien und bin fast kollabiert, sodass ich Beruhigungstropfen verabreicht bekam. „Ich will zu meinen Kindern!“, weinte ich, „jetzt, sofort!“ Unser Freund Franz war mit in den Unfall verwickelt, er hatte alles mitansehen müssen und war auch verletzt. Gerd fuhr vor ihm, beim Aufprall auf ein Auto wurde mein Mann zurückgeschleudert und fiel auf Franz, sodass dieser stürzte, aber dabei nur leichte Verletzungen erlitt.
Es hieß dann, ich sollte gewisse Schritte erledigen, bei denen ich begleitet werden würde. Als Erstes musste ich zu einem Bestatter, um einen Sarg für meinen Mann auszusuchen. Ein befreundetes Paar aus unserer Clique war auch mit dabei, zu ihm sagte ich: „Ich kann das nicht, bitte sucht ihr den Sarg aus.“ Ich habe ihn dann aber doch selbst ausgewählt. Eine Seelsorgerin begleitete mich überallhin, selbst wenn ich zur Toilette ging. Der nächste Schritt war, ins Krankenhaus zu gehen, um Gerd zu identifizieren. Die Polizei war dabei; ich habe am ganzen Körper gezittert. Mein Gefühl kann ich gar nicht beschreiben. Gerd lag aufgebahrt, bedeckt mit einem weißen Tuch, das zurückgeschlagen wurde. Ich bin zu ihm hingegangen und habe ihn angefasst, er war ganz kalt. Er sah aus, als ob er schlafen würde. Man hat ihm den Unfall gar nicht angesehen, nur an der Lippe und am Auge waren kleine Schrammen. Vermutlich hatte er beim Überholen den Gegenverkehr übersehen, das war kurz vor den Serpentinen. Als Motorradfahrer denkt man ziemlich mutig: „Das reicht noch!“ Er ist frontal auf das Auto geprallt und hatte ein Schädel-Hirn-Trauma. Er wurde 20 Minuten reanimiert, ohne Erfolg. Dem Autofahrer war glücklicherweise nichts passiert. Wir haben dann noch bei ihm an der Bahre gebetet.
Draußen wartete der Bestatter auf uns. Er sagte: „Ich brauche noch Unterwäsche und Kleidung für Ihren Mann.“ Wir öffneten auf der Straße das Gepäck; es waren ja nur gebrauchte Sachen dabei, und ich hätte lieber eine frische Hose und ein frisches Hemd für ihn gehabt … So bin ich nun mal gestrickt. Das war schon kurios. Die Polizei hat mir auf der Wache ausgehändigt, was Gerd noch am Körper hatte. Es musste ihn jemand bestohlen haben, denn er hatte extra siebzig Euro eingesteckt, aber im Geldbeutel waren nur noch Münzen drin. Die beiden Männer waren ja eben erst losgefahren und hatten noch keine Gelegenheit gehabt, Geld auszugeben. Wie kann jemand nur so etwas fertigbringen? Die letzten Worte, die Franz noch mit ihm ausgetauscht hatte, waren an einer Ampel, als sie nebeneinanderstanden: „Und, alles gut?“ „Ja, doch, alles in Ordnung!“ Auf der Rückfahrt konnten wir Franz vom Krankenhaus abholen, ihm ging es soweit gut.
Irgendwann fielen mir meine Kinder wieder ein. Sie hatten inzwischen ein paarmal versucht, mich auf dem Handy anzurufen. Nachts um eins sind wir heimgekommen, ohne Gerd. „Was tue ich den Kindern nur an?“, dachte ich. Die beiden älteren kamen von ihren jeweiligen Wohnorten angereist, eine Stunde später waren wir alle zusammen. Die Freunde verabschiedeten sich, wir waren allein. Alle drei Kinder und ich haben uns im Elternschlafzimmer ins Bett gelegt. Wir hielten uns an den Händen und schliefen dann irgendwann ein.
Noch Wochen und Monate danach, wenn ich morgens aufwachte, dann war die Welt für eine Sekunde in Ordnung – und dann überrollt es dich wie ein Laster.
Es kamen viele Leute vorbei, Freunde, Verwandte, alle wollten uns sehen und in den Arm nehmen. Die ersten drei Tage war das Haus ständig voll, was eigentlich gut war, aber dann wiederum fast zu viel. Ich wusste zuvor gar nicht, wie anstrengend das Weinen ist, manchmal musste ich mich danach hinlegen. Beim Schlafen muss man an nichts mehr denken. Aber dann nach dem Aufwachen geht dasselbe von vorne los.
Gerd wurde überführt. Zwei Tage vor der Beerdigung wollten meine Kinder und ich von ihm Abschied nehmen. Das war sehr emotional. Meine Jüngste hat ein kleines Bärchen mitgenommen, das sie ihm mal zum Vatertag geschenkt hatte; die andere Tochter hatte ein Familienbild von uns dabei, und so standen wir vor dem Sarg. Gerd hatte immer Jeans und ein kariertes Hemd an, das trug er auch im Sarg. Florian streichelte ihm über die Brust und stellte dann fest: „Der Papa hat gar kein Tempo im Hemd!“ Dann zog er ein Taschentuch raus und steckte es seinem Papa in die Hemdtasche. Das war das, was Gerd noch gefehlt hat, denn er hatte immer eins dabei. Wir legten unsere Hände auf seinen Körper, alle aufeinander; ich hatte dann plötzlich das starke Gefühl: Der Körper war warm. Die Kinder haben noch Jahre später davon gesprochen, wie wichtig es für sie war, auf diese Art Abschied von ihrem Vater zu nehmen.
Geholfen hat mir in dieser Zeit, dass die Kinder da waren. Von meiner Tochter bekam ich ein Buch mit dem Titel: „Die Hütte. Ein Wochenende mit Gott.“ Das war der Anfang einer wirklichen Hilfe, denn man macht sich ja auch Gedanken darüber, wie es dem Verstorbenen nun geht. Wo ist er? Eine Bekannte hatte Kontakt zu einem Medium, das ich dann auch besucht habe. Die Frau sagte mir, dass Gerd während des Unfalls ganz leicht in die andere Welt hinübergleiten durfte. Ohne Schmerz. Er sei von einem Mann abgeholt worden, anhand der Beschreibung kann ich mir vorstellen, dass das mein Vater war. Gerd und er hatten immer ein gutes Verhältnis. Sie sagte auch, dass Gerd ein guter Mensch war, und für solche Leute ist es leicht, hinüberzuwechseln. Die Vorstellung war für mich beruhigend. Ich war aber auch in psychologischer Betreuung, um das Ganze zu verarbeiten. Mein Chef rief mich nach fünf Wochen an, um zu fragen, ob ich wieder zur Arbeit kommen möchte. Ich habe dann probiert, ein paar Stunden zu arbeiten, aber nach zwei Wochen bin ich zusammengeklappt. Ich konnte nachts nicht schlafen, es ging mir zu viel durch den Kopf: Versicherungen, wir hatten nebenher ein Geschäft, es gab so viel zu regeln … Ich hatte zwar Unterstützung, aber ich wollte ja auch selbst den Überblick behalten. Da ich sehr verantwortungsbewusst bin, war ich ständig unter Druck: „O Gott, ich kann doch nicht bei der Arbeit fehlen!“ Da sagte mein Psychologe in einer Sitzung: „Die Firma bricht nicht zusammen, wenn Sie nicht da sind. Und wer Ihre Arbeit macht, dafür ist der Personalchef zuständig.“ Der Satz half mir, loszulassen und mein Schicksal in den Vordergrund zu stellen.
Mein Mann und ich, wir waren wie zwei Säulen, von denen plötzlich eine weggebrochen ist. Ich kam mir vor wie ein Niemand. In der ersten Zeit nach seinem Tod habe ich überall nur Paare gesehen, die sich anlächelten und Hand in Hand liefen. Das hat sehr geschmerzt.
Viele aus dem Freundeskreis haben mich besucht und gingen auch mit mir aus. Aber nach acht Wochen blieb ein Paar komplett weg, obwohl die beiden damals in Südtirol mit dabei gewesen waren. Das beschäftigte mich wahnsinnig, denn ich verstand es nicht und fragte mich: „Was habe ich denen bloß getan?“ Eines Tages ließ ich spontan den Staubsauger fallen und stieg ins Auto, fuhr zu ihnen hin und klingelte an der Haustür. Die Frau zitterte, als sie öffnete und mich erkannte. Der Mann kam auch hinzu. „Warum meldet ihr euch nicht mehr?“, fragte ich die beiden. „Weißt du, wenn du immer so weinst, ertrage ich das einfach nicht; das erinnert mich an den Tod meines Vaters“, sagte sie. „Wieso hast du mir das denn nie gesagt?“, fragte ich. „Darüber kann man doch reden!“ Während sie etwas zum Trinken holte, schob er es auf seine Frau: „Ich habe immer zu ihr gesagt, dass wir dich mal anrufen sollten.“ Leider war ich nicht so geistesgegenwärtig, um zu antworten: „Aber den Hörer konntest du nicht selbst in die Hand nehmen?!“ Wir sind noch zweimal zusammen ausgegangen, aber ich wollte dann nicht mehr.
Meine allerbeste Freundin versicherte mir: „Du kannst immer zu mir kommen!“ Das ist ja lieb gemeint, aber sie hat Kinder, zwei Enkel, ist verheiratet – alles perfekt. Wenn es mir schlecht ging, dann schaffte ich es nicht, in ihre heile Welt zu gehen. Ich heulte, und bei ihr war alles so idyllisch! Einmal habe ich es probiert, aber mich dabei nicht wohl gefühlt. Mir wäre es lieber gewesen, sie wäre auf mich zugekommen. Aber sie hat mich nie angerufen. Das war eine Enttäuschung! Dafür standen manchmal Leute vor der Tür, mit denen ich nie gerechnet hätte. Eine ehemalige Schulkameradin zum Beispiel, die ich bestimmt fünfzehn, zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatte. Sie war einfach ihrem Bedürfnis gefolgt, mich aufzusuchen. Das fand ich richtig schön. Mein Fazit aus dieser Zeit ist: Du als Betroffener musst Verständnis für dein Umfeld aufbringen! Eigentlich erwartet und wünscht man es sich ja umgekehrt. Ich habe gelernt, dass man keine Erwartungen an jemanden haben darf, denn sonst wird man zu sehr enttäuscht. Zieht es die anderen