Sophienlust Box 15 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Leer«, antwortete Jochen rau, doch nur er selbst wusste, wie viel Grausamkeit und Schmerz sich in diesen beiden Worten verbarg.
»Weiter! Seil nachgeben«, kommandierte er nach oben, sodass das Seil Stück für Stück mit ihm in die Tiefe glitt. Seine Fußsohlen stemmte er senkrecht gegen die Wand. Der zweite Vorsprung war so winzig, dass gerade nur seine beiden Füße darauf Platz fanden. Hier hätte sich ohnehin niemand halten können.
Und dann entdeckte er unter dem jetzt überhängenden Felsen einen breiteren Vorsprung, auf dem ein dunkler Schatten zu erkennen war. Sein Herz begann zu rasen. »Mehr Seil«, schrie er nach oben und arbeitete sich nach rechts hinüber, obwohl auch das gefährlich war. Er hätte in der gleichen Linie bleiben müssen, in der die Männer über ihm standen und das Seil hielten, das noch zusätzlich im Boden verankert war.
Stück für Stück schwebte er durch die Luft auf den Vorsprung zu. Er starrte so intensiv in das überschattete Dunkel, dass seine Augen zu brennen begannen. Doch dann war er sicher. Kein Zweifel, dort lag ein Mensch. Seine Augen hatten sich jetzt auch an das ungewisse und schon dämmerige Licht gewöhnt.
Corinna, schrie sein Herz. Doch seine Lippen brachten keinen Laut hervor. Als er nur noch einen Meter über dem Vorsprung schwebte, erkannte er sogar ihr Gesicht. »Liebste«, schluchzte er auf, hatte sich aber gleich darauf wieder in der Gewalt.
Noch einige Zentimeter, noch einmal, und dann berührten seine Füße den Fels, auf dem sie lag. Erst jetzt erkannte er, dass die Hälfte ihres Körpers bereits über den Fels hinweghing. Eine einzige falsche Bewegung –?und sie musste unweigerlich in die Tiefe stürzen.
Ungeheuer vorsichtig setzte Jochen seine Füße neben ihrem Körper auf. »Corinna, Liebste, hörst du mich?«
Sekundenlang durchzuckte ihn eisiger Schreck. Dann erkannte er, dass sie nur bewusstlos war. Doch gleichzeitig mit diesem Erkennen begriff er, wie schwierig, wenn nicht unmöglich es sein würde, die Bewusstlose hinaufzuziehen, das wäre Mord gewesen. Mit Sicherheit würden sie dann beide in die Tiefe stürzen.
Also gab es keinen anderen Weg, als sich selbst wieder hinaufziehen zu lassen und Verstärkung zu holen. Jetzt sah er auch den Karabinerhaken in der Wand, an dessen Seil Corinna hing. So vorsichtig war sie zumindest gewesen. Höchstwahrscheinlich verdankte sie dieser ungenügenden Absicherung sogar ihr Leben.
Jochen befestigte noch einen zweiten Karabinerhaken neben ihr und schlang das Seil um ihren Körper.
Gerade als er sich wieder hinaufziehen lassen wollte, entdeckte er den schmalen Steg, der direkt zu dem Felsvorsprung führte. Erstaunen zeigte sich auf seinen Zügen. Über diesen Weg also war sie hierhergelangt. Sie hatte sich verlaufen, und zwar ganz erheblich. Denn dieser schmale Weg kam genau von der entgegengesetzten Seite des Berges. Wie war sie nur dorthin geraten?
Doch er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Da die Männer seine Rufe wahrscheinlich nicht mehr hören konnten, zog er dreimal kräftig am Seil, was bedeutete, dass er wieder hinaufgezogen werden wollte.
Das ging verhältnismäßig schnell.
Als die Männer hörten, dass Corinna dort unten lag, arbeiteten sie mit einstudierter Schnelligkeit und Präzision. Nicht umsonst waren sie als Lebensretter ausgebildet. Zu dritt seilten sie sich ab. Das war zwar keine einfache Aufgabe, aber eine halbe Stunde später hatten sie die immer noch bewusstlose Corinna sicher auf ein flaches Plateau unterhalb des Gipfels gebracht. Dort klappten sie die mitgebrachte Trage auseinander und legten Corinna darauf.
Nun begann der Abstieg. Von den langen Schatten der beginnenden Dämmerung begleitet, stiegen sie schweigend, aber zufrieden ins Tal.
Gegen Mitternacht erreichten sie die Hütte, die Corinna und Jochen »ihre Hütte« genannt hatten.
Sie beschlossen, die Nacht in dieser Hütte zu verbringen und erst am nächsten Morgen ins Tal abzusteigen, da das Gehen mit der Trage doch zu beschwerlich war.
Als sie die Hütte betraten, schlug Corinna die Augen auf. Sekundenlang wusste sie nicht, wo sie war. Dann fiel ihr Blick auf Jochen. Sie begriff, dass sie nicht abgestürzt war, sondern lebte.
»Jochen!« Es war fast ein unartikulierter Schrei. Sie fuhr in die Höhe und spürte gleichzeitig einen stechenden Schmerz im Rücken, der sie veranlasste, das Gesicht zu verziehen.
Jochen war mit einem Satz an ihrer Seite. »Bitte, bewege dich nicht, Liebling. Vielleicht bist du verletzt. Wir heben dich aufs Bett.«
Zu dritt hoben sie Corinna behutsam von der Trage auf die Liege im hinteren Teil der Hütte.
Erleichtert atmete Corinna auf und streckte die eingeschlafenen und klammen Glieder.
»Hast du irgendwelche Schmerzen?«, fragte Jochen.
»Ich glaube nicht.« Sie bewegte erst die Arme, dann die Beine und versuchte schließlich vorsichtig, ihren Oberkörper aufzurichten, was ihr nun auch ohne Schmerzen gelang.
»Dann haben Sie offensichtlich keine ernsthaften Verletzungen«, sagte der Bergwachtführer zu ihr. »Doch der erschöpfte Zustand Ihres Körpers wird noch einige Tage anhalten.«
Corinna sank bereits wieder auf das Bett zurück. Sie konnte nur noch nicken, dann fielen ihr wieder die Augen zu.
Jochen wandte sich an die Männer der Bergwacht. »Ich glaube, es ist besser, sie bleibt hier oben, bis sie wieder völlig zu Kräften gekommen ist. Ernstere Verletzungen liegen ja keine vor. Sie ist nur ganz und gar erschöpft.«
Der Anführer des kleinen Trupps gab Jochen recht und beschloss dann, mit seinen Männern noch in dieser Nacht ins Dorf abzusteigen. »Sie brauchen uns ja nun nicht mehr«, sagte er mit einem erleichterten und zufriedenen Lächeln zu Jochen. Auch seine Männer freuten sich über den Erfolg ihrer Bemühungen. Hatten sie doch einen Menschen vor dem sicheren Tod gerettet.
In kameradschaftlicher Eintracht schüttelten sie Jochen vor der Tür der kleinen Hütte die Hand und wünschten ihm und seiner Verlobten für die Zukunft Glück.
Als Jochen die Hütte wieder betrat, atmete Corinna tief und gleichmäßig. Die Erschöpfung hatte sie einfach übermannt. Er breitete eine wollene Decke über sie und setzte sich mit seiner Pfeife neben das Bett.
Lange Zeit saß er wach und betrachtete ihr im Schlaf entspanntes Profil. Dann fielen auch ihm die Augen zu. Die übermenschlichen Anstrengungen dieses Tages hatten auch seinen Körper äußerst geschwächt.
Als er fast vom Stuhl fiel, erhob er sich und streckte sich auf dem Lager neben Corinna aus. Doch selbst noch im Schlaf waren seine Nerven darauf ausgerichtet, auf den geringsten Laut von ihr zu reagieren.
Doch Corinna schlief tief und fest bis zum Morgen. Sie erwachte, weil ein Sonnenstrahl sie an der Nase kitzelte und der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee in den hinteren Teil der Hütte drang.
Verstört blickte sie sich um. Erst nach einigen Minuten begriff sie, wo sie war. Dann erinnerte sie sich auch wieder an die Ereignisse des vorangegangenen Tages.
Jochen trat mit einem Tablett, auf dem ein komplettes Frühstück stand, zu ihrem Bett.
»Du musst ja völlig ausgehungert sein«, meinte er lächelnd.
Corinna wollte aufstehen, doch Jochen drückte sie auf das Bett zurück. Dabei berührte er ihre Hand und erkannte an der Hitze, dass sie Fieber haben musste. Schnell legte er ihr die Hand auf die Stirn. Kein Zweifel, sie hatte erhöhte Temperatur.
»Ich fühle mich so müde«, sagte sie jetzt mit schwacher Stimme.
»Du musst versuchen, etwas zu essen und dann wieder zu schlafen. Allmählich wirst du schon zu Kräften kommen«, sagte er nachsichtig.
Sie heftete ihre Augen fragend und fest auf Jochen. »Hast du mich da oben runtergeholt?«
Er nickte.
»Danke, Jochen«, hauchte sie.
»Ich … ich …«
»Sprich jetzt nicht«, bat er. »Das strengt dich zu