Der Reiher. Giorgio BassaniЧитать онлайн книгу.
umklammerte mit beiden Händen die Tischkante, richtete sich auf und machte die ersten Schritte. Und als Imelde ihm nachkam und ihn anflehte, doch irgend etwas für ihre Irma zu tun (wenn er vielleicht ihren Schwiegersohn einmal zu sich bestellte und ein Wort mit ihm redete – wer weiß, ob der Unglücksmensch dann nicht doch zur Einsicht kam und sein Leben änderte?), antwortete er nur mit einem mal sehen, das, wie er selbst am besten wußte, überhaupt nichts bedeutete.
Diesen Kerl sollte er zu sich bestellen, fragte er sich, während er auf den Hausflur trat und auf seinen Wagen zuging, und ein Wort mit ihm reden? Wenn er sich vorstellte, er sollte sich mit dem jungen Elektriker mit dem totenblassen Gesicht unterhalten, überkam ihn eine Art Widerwille. Ein Widerwille, in den sich Furcht mischte.
Er setzte sich ans Steuer, schaltete die Scheinwerfer ein. Mit einer winkenden Bewegung der Hand den respektvollen Gruß Romeos erwidernd, der das Manöver Schritt für Schritt bis auf die Straße hinaus verfolgt hatte und ihn nun, das dünne Licht der Einfahrt im Rücken, vom Rand des Bürgersteigs her stumm ansah, wechselte er den Gang und fuhr los.
4
Er konnte es kaum erwarten, Codigoro hinter sich zu lassen. Während der ganzen Fahrt von der sogenannten Prospettiva, dem Triumphbogen auf dem Corso Giovecca bis zum Stadtrand von Codigoro hatte er die Augen fast nur auf die Straße vor sich gerichtet gehabt. In Volano wartete ja bereits der Mann mit dem Boot, also mußte er sich beeilen. Aber davon abgesehen, war es so, daß er erst, wenn er über Codigoro und Pomposa hinausgekommen wäre und wenn sich im ungenauen Licht der Dämmerung nach und nach die verlassene Landschaft der Niederung abzeichnete, nur unterbrochen von ausgedehnten Flächen scheinbar stehender Gewässer – scheinbar, denn in Wirklichkeit standen sie mit dem Meer in Verbindung –, daß er erst dann sich wohl zu fühlen begänne und wieder aufatmete.
Aber gerade als er die Peripherie von Codigoro erreicht hatte und im Begriff stand, nach etwa hundert Metern in die glatte Umgehungsstraße einzubiegen, zwang ihn plötzlich ein jäher Schmerz in der Gürtelgegend, dem eine Sekunde zuvor ein leichtes Herzklopfen vorangegangen war, sich über das Steuerrad zu beugen.
»Ein Glück, daß es jetzt kommt«, brummte er vor sich hin, während er von unten mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe auf die beiden Schornsteine der Zuckerfabrik Eridania sah und auf den nicht weit davon entfernten Schornstein der Pumpwerke des Consorzio Bonifiche.
Er kannte sich. Höchstens zehn Minuten würde er aushalten können, länger nicht. Würden sie genügen?
Im Licht der ersten, in weiten Abständen aufeinanderfolgenden Straßenlaternen, die im Wind heftig über dem ländlichen Kopfsteinpflaster schaukelten, blickte er auf die Uhr. Sechs Uhr vierzig. Um diese Zeit würden die beiden Cafés an der Piazza gewiß die Jalousien schon aufgezogen haben. Um so mehr ein Grund, zunächst auf die Weiterfahrt nach Volano zu verzichten und lieber hier, in Codigoro, haltzumachen. Wenn er es erst einmal geschafft hatte, bis zur Piazza zu kommen, dann war er gerettet.
Geradeaus fahrend, erreichte er in wenigen Augenblicken das Zentrum und die Piazza. Nirgends ein Licht – er sah es sofort, in seiner Erwartung enttäuscht, gewiß, und doch absurderweise zugleich mit einer Spur von Erleichterung – weder in den beiden gegenüberliegenden Cafés auf der rechten Seite noch in dem zehnstöckigen Gebäude des Nationalen Versicherungsinstituts, der I.N.A., auf der anderen Seite, in dem Ulderico mit seiner Familie wohnte, noch in irgendeinem der anderen großen und kleinen Häuser an der Piazza. Alles geschlossen, alles dunkel. Nirgends eine Menschenseele.
Er fuhr auf die linke Seite des Platzes, um dort, vor dem großen Gebäude der früheren Casa del Fascio, aus der heute eine Kaserne der Carabinieri geworden war, zu parken. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus und schloß in aller Ruhe die Wagentür ab. Codigoro. Die Piazza von Codigoro. Seit rund zehn Jahren, seit dem Jahr 1938, war er nicht mehr zu so früher Stunde hier gewesen. Aber einen so menschenleeren Platz hatte er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie gesehen. Was hatte wohl eine solche Verlassenheit bewirkt? War es der kommunistische Terror, fragte er sich mit einem spöttischen Grinsen. Oder einfach Weihnachten?
Es war nicht kalt; und vom Wind war zumindest in dieser Ecke so gut wie nichts mehr zu merken. Seltsam – auch die Leibschmerzen hatten aufgehört. Aus dem Schatten des Laubengangs vor dem Versicherungsgebäude kam ein Hund, ein Pointer, nach seinem Gang zu urteilen. Er sah, wie er ins Freie kam und zur Mitte des Platzes hinlief (ja, es war ein alter Vorstehhund), wo er vor dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs haltmachte, gründlich am Sockel schnüffelte, bevor er das Bein hob, um dann in langsamem Trab nach rechts hin, in einer Gasse, zu verschwinden. – Und wenn er es bei Bellagamba versuchte, überlegte er, nun wieder allein auf dem Platz. Möglich, daß auch der Bosco Elìceo noch nicht geöffnet hatte, zugegeben. Andererseits aber konnte er sich schlimmstenfalls an die Glocke hängen, da es ja immerhin auch ein Hotel war (wenn er auch persönlich dort noch nie übernachtet hatte; aber er hatte des öfteren gehört, daß es oben Zimmer für Gäste gab).
Er öffnete den Kofferraum, entnahm ihm eine graue Astrachanmütze (ein altes Stück, das er schon als junger Mensch getragen hatte, zur Jagd in den Valli ebenso wie zum Skilaufen im Gebirge), die er sich nun auf den Kopf stülpte, und ging dann die etwa zwanzig Meter bis zur Ecke, die das einstige Parteihaus, die heutige Carabinieri-Kaserne, mit der nächsten Querstraße bildete. Er spähte zum Bosco Elìceo hinüber: Nein, er hatte sich nicht getäuscht, auch er war noch geschlossen. Also würde ihm tatsächlich nichts übrigbleiben, als so lange zu läuten, bis man ihm aufmachte. Denn hier haltmachen mußte er unter allen Umständen; also blieb ihm keine Wahl.
Aber als er dann vor den herabgelassenen Rolladen stand, über seinem Kopf das leuchtende Neonschild, da genügte die Vorstellung, plötzlich von Angesicht zu Angesicht Bellagamba gegenüberzustehen – es war ja keineswegs ausgeschlossen, daß er ihm selbst die Tür öffnete –, um ihn doch noch zurückzuhalten.
Er erinnerte sich an Bellagamba aus den Jahren 1938 und 1939, als er die Uniform eines Korporals der faschistischen Miliz trug (Gino hieß er, wenn er sich nicht irrte, Gino Bellagamba), den Fes in den glattrasierten Stiernacken geschoben, so daß ihm die schwarze Quaste halb über den Rücken hing. Er erinnerte sich an seine Physiognomie: Man dachte an einen ländlichen Bramarbas, der dank der Ereignisse wieder in den aktiven Dienst eingestellt worden war. Fast den ganzen Tag stand er auf der Piazza, wie ein Wachhund, genau vor der Casa del Fascio. Er erinnerte sich der drohenden, verachtungsvollen Blicke, mit denen er damals auch ihn bedacht hatte, weil er Jude war, weil er unpolitisch war und weil er Grundbesitzer war, wenn er auf dem Weg in die Montina durch Codigoro kam und das Pech hatte, ihm über den Weg zu laufen … Nein, diesem Mann plötzlich gegenüberzustehen, mit dem er übrigens in seinem ganzen Leben noch nie ein Wort gewechselt hatte, und ihn darum bitten zu müssen – nämlich um die Erlaubnis, seine Toilette zu benutzen –, das würde alles andere als angenehm für ihn werden. Er war nahe daran – wenn es nur ein bißchen später wäre – kehrtzumachen und bei seinem Vetter Ulderico zu läuten.
Und wohin sonst hätte er gehen können? Und übrigens, lohnte es sich, offen gesagt, wirklich, es sich selbst so schwerzumachen? Er hatte es seinerzeit immer vermieden, die Mitgliedskarte der Faschistischen Partei zu erwerben (nicht weil er je dagegen gewesen wäre, um die Wahrheit zu sagen, sondern nur so, aus jenem gewissen Zug seines Charakters heraus: dem Mangel an sozialem Empfinden); in dieser Hinsicht hatte er es anders gemacht als Ulderico, der es sich nicht zweimal hatte sagen lassen, als man ihm im Jahre 1932 die Mitgliedschaft anbot; er hatte sofort zugegriffen. Aber, wenn man es recht bedachte, waren die Faschisten von vor 1943 wirklich so viel schlechter als die Kommunisten von heute? Und die heutigen Gewerkschaften, eingerichtet als Zentren der Anmaßung und der Übergriffe gegen den, der etwas hatte, waren sie vielleicht besser als die faschistischen Organisationen? Im Falle Bellagambas allerdings stimmte vielleicht sogar, was Nives behauptete: daß er sich nach dem Zwischenspiel Badoglios zu den Faschisten von Salò geschlagen hatte. Durchaus möglich. Aber wenn selbst die Kommunisten, die heute die absoluten Herrscher von Codigoro waren, ihn in Ruhe ließen, warum sollte da ausgerechnet er Geschichten machen? Außerdem war es ja bekannt, daß Nives die Manie hatte, ihren Landsleuten eins auszuwischen. Dazu war ihr jede Gelegenheit recht …