Praxis Dr. Norden Box 4 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Ort für Vertraulichkeiten dieser Art. »Mach dir keine Sorgen. Soweit ist alles in Ordnung.«
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Arndt heftete sich an ihre Fersen. »Dummerweise ist es nicht einfach, sich abzuseilen, wenn man allein in der Praxis ist.«
»Was ist denn mit deiner Sprechstundenhilfe?«
»Gisela musste früher weg.« Vor dem Behandlungszimmer blieben sie stehen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es heutzutage ist, zuverlässiges Personal zu bekommen.« Unvermittelt griff Arndt nach Janines Händen. »Warum kommst du nicht zu mir? Das wäre die perfekte Lösung. Dann könnten wir uns jeden Tag sehen und müssten nicht immer Abschied voneinander nehmen. Mal abgesehen davon, dass ich die beste Assistentin der Stadt, ach was, des ganzen Landes hätte.«
Janine lachte. Ihre Wangen glühten.
»Jetzt ist nicht der richtige Moment für Scherze.«
»Das ist kein Scherz.« Arndts Miene bestätigte seine Worte. »Du interessierst dich für Homöopathie und traditionelle chinesische Medizin, bist gelernte Krankenschwester und hast eine Zusatzausbildung in ambulantem Operieren. Besser geht es nicht.«
»Deine Anerkennung ehrt mich. Aber findest du das nicht ein bisschen überstürzt? Ich habe erst heute deinen Sohn kennengelernt.«
Arndt zog eine Augenbraue hoch.
»Und? Versteht ihr euch nicht?«
»Doch. Malte ist ein ausgesprochen netter junger Mann, den du jetzt besuchen solltest.« Um die Diskussion zu beenden, öffnete Janine die Tür.
»Na endlich. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen«, begrüßte Malte seinen Vater.
Janine zog sich diskret zurück.
»Die Patienten kennen kein Pardon«, entschuldigte sich Arndt und trat zu seinem Sohn. »Was machst du denn für Sachen?«
Malte schnitt eine Grimasse.
»Ich kann nichts dafür, dass Dr. Norden nicht aus dem Weg gegangen ist.«
»Lass mich raten! Du bist wieder mit diesem Höllenteil gefahren und hast dabei Musik gehört.«
»Aber ich hatte einen Helm auf.«
Arndt lachte und schüttelte den Kopf.
»Du bist unmöglich. Lass mal sehen!« Er beugte sich über das Knie. »Tut es sehr weh?«
»Solange ich mich nicht bewege, geht es.«
Arndt prüfte den Sitz der Bandage.
»Sieht aus, als hätte der Kollege Norden gute Arbeit geleistet.«
»Du hättest es bestimmt genauso gut gemacht. Wenn nicht besser.«
»Dein Vertrauen ehrt mich.« Arndt klopfte seinem Sohn auf die Schulter.
»Ich verstehe nur nicht, warum er mir Blut abgenommen hat«, fuhr der junge Mann fort und deutete auf das Pflaster in der Armbeuge.
Dr. Stein runzelte die Stirn.
»Das wird er uns bestimmt erklären, wenn er gleich zu uns kommt.«
*
»Schau mal ins E-Mail-Postfach!« Wendy saß am Schreibtisch. Ihr Blick ruhte auf dem Bildschirm des Computers. »Das Labor von Malte Stein ist da.«
»Da haben sich die Kollegen aber beeilt.« Danny Norden hatte die letzte Patientin des Tages zur Tür gebracht und gesellte sich zu seinen Assistentinnen an den Tresen. »Wie sehen seine Werte aus?«
»Augenblick.« Janine tippte ein paar Befehle ein. Das Licht des Monitors fiel auf ihr Gesicht.
Danny betrachtete sie besorgt.
»Das scheint ja nicht gut auszusehen.« Er trat hinter sie und warf einen Blick über ihre Schulter. »Die Eiweißwerte sind sehr niedrig.«
»Sehen Sie sich die Leberwerte an!« Janine deutete auf die entsprechende Zeile.
»Der Junge hat akute Mangelerscheinungen.«
»Kein Wunder, dünn wie er ist«, murmelte Janine vor sich hin. Wieder musste sie an sein knochiges Knie denken.
»Wie alt ist er?«, erkundigte sich Wendy.
»Fast siebzehn.«
»Wirklich? Ich hätte ihn keinen Tag älter als fünfzehn geschätzt.«
Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, wiegte Janine den Kopf.
»Sieht alles nach einer Entwicklungsstörung aus. Vielleicht eine Essstörung.«
»Das habe ich ihn schon gefragt.« Danny Norden richtete sich auf und streckte den Rücken durch. »Er hat steif und fest behauptet, er würde genug essen.«
»Mal abgesehen davon hätte Arndt das doch gemerkt«, erwiderte Janine. »Er betont immer wieder, wie gut er sich mit seinem Sohn versteht und welch enges Verhältnis sie haben, seit Maltes Mutter die Familie verlassen hat.«
Wendy lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
»Gerade deshalb könnte es sein, dass sein Vater etwas übersehen hat«, gab sie zu bedenken.
»Aber Essstörungen sind doch eher ein weibliches Problem«, bemerkte Janine.
»Irrtum.« Wendy streckte die Hand nach dem Stapel Papier aus, der sich auf der linken Seite ihres Schreibtischs auftürmte. Eine Weile raschelte sie darin herum, ehe sie triumphierend eine Broschüre durch die Luft schwenkte. »In diesem Heft steht, dass gerade junge Männer in ihrem Selbstbewusstsein verunsichert sind und aus diesem Grund klassische Frauenmuster aufgreifen.« Sie klappte die Broschüre auf und überflog den Text. »Hier haben wir es ja! Hört zu!« Sie hielt den rechten Zeigefinger hoch. »Der Mann ist zunehmend körperorientiert und klinkt sich aus der traditionellen Geschlechterrolle aus. Er wird empfänglicher für Werbung. Seit dem Aufkommen moderner Lifestyle-Magazine für Männer, in denen unerreichbare körperliche Ideale abgebildet werden, ist ein erhöhter Anstieg an Essstörungen bei männlichen Jugendlichen zu verzeichnen.«
Danny Norden hatte aufmerksam zugehört. Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe nicht den Eindruck, als litte Malte unter psychischen Störungen.«
»Und was haben Sie jetzt vor?« Janine sah ihren Chef fragend an.
Danny streckte die Hand nach Wendys Broschüre aus.
»Der Verdacht einer Störung ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb werde ich mit seinem Vater sprechen. Haben Sie die Telefonnummer?«
»Arndt Stein ist gerade bei seinem Sohn«, teilte Wendy ihrem Chef mit.
»Oh, gut. Dann begeben ich mich mal in die Höhle des Löwen.« Auf halbem Weg drehte sich Danny noch einmal um. »Aber freuen Sie sich nicht zu früh!« Er zwinkerte Wendy zu. »Dem Salsa-Kursus heute Abend entgehen Sie nicht. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«
*
Seit einer Weile hatte es sich Fynn angewöhnt, vor jedem neuen Krippentag seinen Kinderkoffer mit all den Dingen zu packen, die ihm wichtig waren. Deshalb dauerte es auch bei jedem Abholen, bis Teddy, Schmusetuch und das aktuelle Lieblingsbuch wieder verstaut waren und der kleine Mann bereit für den Heimweg war.
»Und? Hattest du deinen schönen Tag?«, fragte Tatjana, während sie Hand in Hand mit ihrem Sohn den Gehweg entlang schlenderte.
»Ich bin Bagga gefaht. Aba Micha mein Bagga wegnommt«, plapperte der Kleine. Die rechte Hand gestikulierte wild durch die Luft, während er mit der linken seinen Koffer hinter sich herzog.
»O je, da warst du bestimmt ganz traurig.«
Die blonden Locken flogen nach links und rechts.
»Ich hab Micha haut«, erklärte der Kleine mit dem ganzen Ernst seiner drei Jahre.
Mitten auf dem Gehweg