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Briefe aus der Schweiz. Johann Wolfgang von GoetheЧитать онлайн книгу.

Briefe aus der Schweiz - Johann Wolfgang von Goethe


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      Soll ich oder soll ich nicht? Ist es gut, dir etwas zu verschweigen, dem ich so viel, dem ich alles sage? Soll ich dir etwas Bedeutendes verschweigen, indessen ich dich mit so vielen Kleinigkeiten unterhalte, die gewiß niemand lesen möchte als du, der du eine so große und wunderbare Vorliebe für mich gefaßt hast? Oder soll ich etwas verschweigen, weil es dir einen falschen, einen üblen Begriff von mir geben könnte? Nein! du kennst mich besser, als ich mich selbst kenne; du wirst auch das, was du mir nicht zutraust, zurechtlegen, wenn ich's tun konnte; du wirst mich, wenn ich tadelnswert bin, nicht verschonen, mich leiten und führen, wenn meine Sonderbarkeiten mich vom rechten Wege abführen sollten.

Scheideblick nach Italien

      Scheideblick nach Italien

      Meine Freude, mein Entzücken an Kunstwerken, wenn sie wahr, wenn sie unmittelbar geistreiche Aussprüche der Natur sind, macht jedem Besitzer, jedem Liebhaber die größte Freude. Diejenigen, die sich Kenner nennen, sind nicht immer meiner Meinung; nun geht mich doch ihre Kennerschaft nichts an, wenn ich glücklich bin. Drückt sich nicht die lebendige Natur lebhaft dem Sinne des Auges ein, bleiben die Bilder nicht fest vor meiner Stirn, verschönern sie sich nicht, und freuen sie sich nicht, den durch Menschengeist verschönerten Bildern der Kunst zu begegnen? Ich gestehe dir, darauf beruht bisher meine Liebe zur Natur, meine Liebhaberei zur Kunst, daß ich jene so schön, so schön, so glänzend und so entzückend sah, daß mich das Nachstreben des Künstlers, das unvollkommene Nachstreben, fast wie ein vollkommenes Vorbild hinriß. Geistreiche, gefühlte Kunstwerke sind es, die mich entzücken. Das kalte Wesen, das sich in einen beschränkten Zirkel einer gewissen dürftigen Manier, eines kümmerlichen Fleißes einschränkt, ist mir ganz unerträglich. Du siehst daher, daß meine Freude, meine Neigung bis jetzt nur solchen Kunstwerken gelten konnte, deren natürliche Gegenstände mir bekannt waren, die ich mit meinen Erfahrungen vergleichen konnte. Ländliche Gegenden mit dem, was in ihnen lebt und webt, Blumen- und Fruchtstücke, gotische Kirchen, ein der Natur unmittelbar abgewonnenes Porträt, das könnt ich erkennen, fühlen und, wenn du willst, gewissermaßen beurteilen. Der wackre M*** hatte seine Freude an meinem Wesen und trieb, ohne daß ich es übelnehmen konnte, seinen Scherz mit mir. Er übersieht mich so weit in diesem Fache, und ich mag lieber leiden, daß man lehrreich spottet, als daß man unfruchtbar lobt. Er hatte sich abgemerkt, was mir zunächst auffiel, und verbarg mir nach einiger Bekanntschaft nicht, daß in den Dingen, die mich entzückten, noch manches Schätzenswerte sein möchte, das mir erst die Zeit entdecken würde. Ich lasse das dahingestellt sein und muß denn doch, meine Feder mag auch noch so viele Umschweife nehmen, zur Sache kommen, die ich dir, obwohl mit einigem Widerwillen, vertraue. Ich sehe dich in deiner Stube, in deinem Hausgärtchen, wo du bei einer Pfeife Tabak den Brief erbrechen und lesen wirst. Können mir deine Gedanken in die freie und bunte Welt folgen? Werden deiner Einbildungskraft die Verhältnisse und die Umstände so deutlich sein? Und wirst du gegen einen abwesenden Freund so nachsichtig bleiben, als ich dich in der Gegenwart oft gefunden habe?

      Nachdem mein Kunstfreund mich näher kennengelernt, nachdem er mich wert hielt, stufenweis bessere Stücke zu sehen, brachte er nicht ohne geheimnisvolle Miene einen Kasten herbei, der, eröffnet, mir eine Danae in Lebensgröße zeigte, die den goldnen Regen in ihrem Schöße empfängt. Ich erstaunte über die Pracht der Glieder, über die Herrlichkeit der Lage und Stellung, über das Große der Zärtlichkeit und über das Geistreiche des sinnlichsten Gegenstandes; und doch stand ich nur in Betrachtung davor. Es erregte nicht jenes Entzücken, jene Freude, jene unaussprechliche Lust in mir. Mein Freund, der mir vieles von den Verdiensten dieses Bildes vorsagte, bemerkte über sein eignes Entzücken meine Kälte nicht und war erfreut, mir an diesem trefflichen Bilde die Vorzüge der italienischen Schule deutlich zu machen. Der Anblick dieses Bildes hatte mich nicht glücklich, er hatte mich unruhig gemacht. Wie? sagte ich zu mir selbst, in welchem besondern Falle finden wir uns, wir bürgerlich eingeschränkten Menschen? Ein bemooster Fels, ein Wasserfall hält meinen Blick so lange gefesselt, ich kann ihn auswendig; seine Höhen und Tiefen, seine Lichter und Schatten, seine Farben, Halbfarben und Widerscheine, alles stellt sich mir im Geiste dar, sooft ich nur will; alles kommt mir aus einer glücklichen Nachbildung ebenso lebhaft wieder entgegen: und vom Meisterstücke der Natur, vom menschlichen Körper, von dem Zusammenhang, der Zusammenstimmung seines Gliederbaues habe ich nur einen allgemeinen Begriff, der eigentlich gar kein Begriff ist. Meine Einbildungskraft stellt mir diesen herrlichen Bau nicht lebhaft vor, und wenn mir ihn die Kunst darbietet, bin ich nicht imstande, weder etwas dabei zu fühlen noch das Bild zu beurteilen. Nein! ich will nicht länger in dem stumpfen Zustande bleiben, ich will mir die Gestalt des Menschen eindrücken wie die Gestalt der Trauben und Pfirschen.

      Ich veranlaßte Ferdinanden, zu baden im See; wie herrlich ist mein junger Freund gebildet! Welch ein Ebenmaß aller Teile! welch eine Fülle der Form, welch ein Glanz der Jugend, welch ein Gewinn für mich, meine Einbildungskraft mit diesem vollkommenen Muster der menschlichen Natur bereichert zu haben! Nun bevölkere ich Wälder, Wiesen und Höhen mit so schönen Gestalten; ihn seh ich als Adonis dem Eber folgen, ihn als Narziß sich in der Quelle bespiegeln!

      Noch aber fehlt mir leider Venus, die ihn zurückhält, Venus, die seinen Tod betrauert, die schöne Echo, die noch einen Blick auf den kalten Jüngling wirft, ehe sie verschwindet. Ich nahm mir fest vor, es koste, was es wolle, ein Mädchen in dem Naturzustande zu sehen, wie ich meinen Freund gesehen hatte. Wir kamen nach Genf. Sollten in dieser großen Stadt, dachte ich, nicht Mädchen sein, die sich für einen gewissen Preis dem Mann überlassen? Und sollte nicht eine darunter schön und willig genug sein, meinen Augen ein Fest zu geben? Ich horchte an dem Lohnbedienten, der sich mir, jedoch nur langsam und auf eine kluge Weise, näherte. Natürlich sagte ich ihm nichts von meiner Absicht; er mochte von mir denken, was er wollte; denn man will lieber jemanden lasterhaft als lächerlich erscheinen. Er führte mich abends zu einem alten Weibe; sie empfing mich mit viel Vorsicht und Bedenklichkeiten: es sei, meinte sie, überall und besonders in Genf gefährlich, der Jugend zu dienen. Ich erklärte mich sogleich, was ich für einen Dienst von ihr verlange. Mein Märchen glückte mir, und die Lüge ging mir geläufig vom Munde. Ich war ein Maler, hatte Landschaften gezeichnet, die ich nun durch die Gestalten schöner Nymphen zu heroischen Landschaften erheben wolle. Ich sagte die wunderlichsten Dinge, die sie ihr Lebtag nicht gehört haben mochte. Sie schüttelte dagegen den Kopf und versicherte mir, es sei schwer, meinen Wunsch zu befriedigen. Ein ehrbares Mädchen werde sich nicht leicht dazu entschließen, es werde mich was kosten, sie wolle sehen. »Was?« rief ich aus, »ein ehrbares Mädchen ergibt sich für einen leidlichen Preis einem fremden Mann?« – »Allerdings.« – »Und sie will nicht nackend vor seinen Augen erscheinen?« – »Keinesweges; dazu gehört viel Entschließung.« – »Selbst wenn sie schön ist?« – »Auch dann. Genug, ich will sehen, was ich für Sie tun kann, Sie sind ein junger, artiger, hübscher Mann, für den man sich schon Mühe geben muß.«

Blockhütte

      Blockhütte

      Sie klopfte mir auf die Schultern und auf die Wangen: »Ja!« rief sie aus, »ein Maler, das muß es wohl sein, denn Sie sind weder alt noch vornehm genug, um dergleichen Szenen zu bedürfen.« Sie bestellte mich auf den folgenden Tag, und so schieden wir auseinander.

      Ich kann heute nicht vermeiden, mit Ferdinand in eine große Gesellschaft zu gehen, und auf den Abend steht mir das Abenteuer bevor. Es wird einen schönen Gegensatz geben. Schon kenne ich diese verwünschte Gesellschaft, wo die alten Weiber verlangen, daß man mit ihnen spielen, die jungen, daß man mit ihnen liebäugeln soll, wo man dann dem Gelehrten zuhören, den Geistlichen verehren, dem Edelmann Platz machen muß, wo die vielen Lichter kaum eine leidliche Gestalt beleuchten, die noch dazu hinter einen barbarischen Putz versteckt ist. Soll ich Französisch reden, eine fremde Sprache, in der man immer albern erscheint, man mag sich stellen, wie man will, weil man immer nur das Gemeine, nur die groben Züge, und noch dazu stockend und stotternd, ausdrücken kann? Denn was unterscheidet den Dummkopf vom geistreichen Menschen, als daß dieser das Zarte, Gehörige der Gegenwart schnell, lebhaft und eigentümlich ergreift und mit Leichtigkeit ausdrückt,


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