Briefe aus der Schweiz. Johann Wolfgang von GoetheЧитать онлайн книгу.
nach meinen Wünschen, über meine Wünsche, und doch weiß ich nicht, ob ich mich darüber freuen oder ob ich mich tadeln soll. Sind wir denn nicht gemacht, das Schöne rein zu beschauen, ohne Eigennutz das Gute hervorzubringen? Fürchte nichts und höre mich: ich habe mir nichts vorzuwerfen; der Anblick hat mich nicht aus meiner Fassung gebracht, aber meine Einbildungskraft ist entzündet, mein Blut erhitzt. Oh! stünd ich nur schon den großen Eismassen gegenüber, um mich wieder abzukühlen! Ich schlich mich aus der Gesellschaft und, in meinen Mantel gewickelt, nicht ohne Bewegung zur Alten. »Wo haben Sie Ihr Portefeuille?« rief sie aus. – »Ich hab es diesmal nicht mitgebracht. Ich will heute nur mit den Augen studieren.« – »Ihre Arbeiten müssen Ihnen gut bezahlt werden, wenn Sie so teure Studien machen können. Heute werden Sie nicht wohlfeil davonkommen. Das Mädchen verlangt ***, und mir können Sie auch für meine Bemühung unter ** nicht geben.« (Du verzeihst mir, wenn ich dir den Preis nicht gestehe.) »Dafür sind Sie aber auch bedient, wie Sie es wünschen können. Ich hoffe, Sie sollen meine Vorsorge loben; so einen Augenschmaus haben Sie noch nicht gehabt, und... das Anfühlen haben Sie umsonst.«
Sie brachte mich darauf in ein kleines, artig möbliertes Zimmer: ein sauberer Teppich deckte den Fußboden, in einer Art von Nische stand ein sehr reinliches Bett, zu der Seite des Hauptes eine Toilette mit aufgestelltem Spiegel und zu den Füßen ein Gueridon mit einem dreiarmigen Leuchter, auf dem schöne, helle Kerzen brannten; auch auf der Toilette brannten zwei Lichter. Ein erloschenes Kaminfeuer hatte die Stube durchaus erwärmt. Die Alte wies mir einen Sessel an, dem Bette gegenüber am Kamin, und entfernte sich. Es währte nicht lange, so kam zu der entgegengesetzten Türe ein großes, herrlich gebildetes, schönes Frauenzimmer heraus; ihre Kleidung unterschied sich nicht von der gewöhnlichen. Sie schien mich nicht zu bemerken, warf ihren schwarzen Mantel ab und setzte sich vor die Toilette. Sie nahm eine große Haube, die ihr Gesicht bedeckt hatte, vom Kopfe: eine schöne, regelmäßige Bildung zeigte sich, braune Haare mit vielen und großen Locken rollten auf die Schultern herunter. Sie fing an, sich auszukleiden; welch eine wunderliche Empfindung, da ein Stück nach dem ändern herabfiel und die Natur, von der fremden Hülle entkleidet, mir als fremd erschien und beinahe, möcht ich sagen, mir einen schauerlichen Eindruck machte. Ach! mein Freund, ist es nicht mit unsern Meinungen, unsern Vorurteilen, Einrichtungen, Gesetzen und Grillen auch so? Erschrecken wir nicht, wenn eine von diesen fremden, ungehörigen, unwahren Umgebungen uns entzogen wird' und irgendein Teil unserer wahren Natur entblößt dastehen soll? Wir schaudern, wir schämen uns; aber vor keiner wunderlichen und abgeschmackten Art, uns durch äußern Zwang zu entstellen, fühlen wir die mindeste Abneigung. Soll ich dir's gestehen, ich konnte mich ebensowenig in den herrlichen Körper finden, da die letzte Hülle herabfiel, als vielleicht Freund L. sich in seinen Zustand finden wird, wenn ihn der Himmel zum Anführer der Mohawks machen sollte. Was sehen wir an den Weibern? Was für Weiber gefallen uns, und wie konfundieren wir alle Begriffe? Ein kleiner Schuh sieht gut aus, und wir rufen: Welch ein schöner kleiner Fuß! Ein schmaler Schnürleib hat etwas Elegantes, und wir preisen die schöne Taille.
Bauernhütte
Ich beschreibe dir meine Reflexionen, weil ich dir mit Worten die Reihe von entzückenden Bildern nicht darstellen kann, die mich das schöne Mädchen mit Anstand und Artigkeit sehen ließ. Alle Bewegungen folgten so natürlich aufeinander, und doch schienen sie so studiert zu sein. Reizend war sie, indem sie sich entkleidete, schön, herrlich schön, als das letzte Gewand fiel. Sie stand, wie Minerva vor Paris mochte gestanden haben, bescheiden bestieg sie ihr Lager, unbedeckt versuchte sie in verschiedenen Stellungen sich dem Schlafe zu übergeben, endlich schien sie entschlummert. In der anmutigsten Stellung blieb sie eine Weile, ich konnte nur staunen und bewundern. Endlich schien ein leidenschaftlicher Traum sie zu beunruhigen, sie seufzte tief, veränderte heftig die Stellung, stammelte den Namen eines Geliebten und schien ihre Arme gegen ihn auszustrecken. »Komm!« rief sie endlich mit vernehmlicher Stimme, »komm, mein Freund, in meine Arme, oder ich schlafe wirklich ein.« In dem Augenblick ergriff sie die seidne, durchnähte Decke, zog sie über sich her, und ein allerliebstes Gesicht sah unter ihr hervor.
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