Maigret macht Ferien. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.
»Selbst wenn noch Fleisch drinsteckt?«
Da konnte ihm Mansuy mit geröteten Wangen noch so viele Fragen und Fallen stellen. Nichts zu machen.
»Ein Mann hat mir die Wäsche verkauft …«
»Wo?«
»Auf der Straße …«
»Auf welcher Straße?«
»Da hinten …«
»Wie heißt er?«
»Weiß nicht …«
»Hast du ihn vorher schon einmal gesehen?«
»Ich glaube nicht …«
»Und der kommt zu dir, um dir Bettlaken und Wäsche zu verkaufen?«
»Hab ich doch gesagt …«
»Dir ist hoffentlich klar, dass der Richter dir das nicht abnimmt und dich einkassiert?«
»Das wäre aber eine große Ungerechtigkeit …«
Polyte verbreitete einen Geruch, der an die Unterkunft der Heilsarmee erinnerte. Er war verstockt, und man ahnte, dass nicht mehr aus ihm herauszubekommen war, selbst wenn man das Verhör noch stundenlang fortsetzte. Seine kleinen listigen Augen schienen zu sagen:
»Ihr seht doch, dass ihr so nicht weiterkommt!«
Zwei Polizisten führten ihn endlich ab, immer noch in Handschellen, während Maigret mit dem Kommissar zurückblieb. Die Fenster standen offen, und das Gebäude war bis auf die Männer in der Wache leer.
»So geht das hier zu … Sie haben sicher mit ganz anderen Fällen zu tun. Mir bleibt fast jeden Nachmittag noch Zeit für eine Partie Bridge.«
»Sie denken daran, den Unterpräfekten anzurufen?«
»Ich weiß bereits, dass er mich morgen Abend zum Essen einladen will. Kennen Sie ihn? Ein freundlicher Mann … Aber Sie sprachen vorhin von Philippe Bellamy. Was halten Sie von ihm? Er hat Format, nicht wahr? Ich bin erst vor zwei Jahren nach Les Sables versetzt worden, aber das hat gereicht, um jeden hier kennenzulernen. Den wichtigsten Persönlichkeiten sind Sie ja schon begegnet. Echte Originale sind darunter … Aber Doktor Bellamy übertrifft sie alle. Wissen Sie, dass er in seinem Fach ein Experte ist? Ich hatte Gelegenheit, mit einem Freund darüber zu sprechen, der Arzt in Bordeaux ist. Bellamy ist einer der bekanntesten Neurologen … Er hat lange in Pariser Krankenhäusern gearbeitet und sich dort habilitiert. Er hätte Professor werden können, an einer großen Universität … hat es aber vorgezogen, hier mit seiner Mutter zu leben.«
»Stammt seine Familie aus Les Sables?«
»Die Bellamys sind seit mehreren Generationen hier ansässig. Haben Sie seine Mutter nicht kennengelernt? Eine dickleibige alte Dame, ziemlich stämmig, die ihren Gehstock mit einem Säbel verwechselt. Ungefähr einmal die Woche gerät sie mit den Marktfrauen aneinander.«
»Woran ist die junge Frau gestorben?«
»Ich denke, der Unterpräfekt will mich zum Abendessen einladen, um genau darüber zu sprechen. Heute Morgen hat er mich deswegen angerufen. Natürlich verkehrt er mit Doktor Bellamy. Sie sehen sich ziemlich oft …«
Es tat gut, in Ruhe Pfeife zu rauchen, dabei im Büro auf und ab zu gehen, von Zeit zu Zeit vor dem hellen Viereck des Fensters innezuhalten und auf diese Art zu plaudern, zwanglos und in knappen Sätzen.
»Es war zu erwarten, dass viel über den Unfall geredet wird … Mich wundert, dass Sie nicht Bescheid wissen.«
»Ich kenne hier doch kaum jemanden.«
»Es war … vor zwei Tagen, glaube ich. Genau, am 3. August … Der Bericht muss noch auf dem Schreibtisch meines Sekretärs liegen, aber ich komme jetzt nicht an ihn heran. Doktor Bellamy war in Begleitung seiner Schwägerin mit dem Wagen nach La Roche-sur-Yon unterwegs …«
»Wie alt?«
»Neunzehn Jahre … Ein eigenartiges Mädchen, eher interessant als hübsch. Aber bitte keine falschen Schlüsse … Lili Godreau war nett, aber ihre Schwester, Bellamys Frau, ist eine der schönsten Frauen, die man sich denken kann … Leider werden Sie kaum Gelegenheit haben, sie zu sehen, denn sie geht selten aus …«
»Wie alt?«, wiederholte Maigret.
»Ungefähr fünfundzwanzig … Die Liebe von Bellamy zu seiner Frau ist beinahe sprichwörtlich in der Gegend. Es ist echte Leidenschaft, und jeder wird Ihnen bestätigen, dass er von Eifersucht besessen ist … Es wird sogar behauptet, er würde sie einschließen, wenn er ausgeht, etwa nachmittags zum Kartenspielen. Ich glaube, das ist übertrieben. Fest steht aber, dass Bellamys Mutter niemals zur selben Zeit das Haus verlässt wie ihr Sohn. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Schwiegertochter überwacht … Sie haben den Doktor telefonieren sehen … Er hält es keine zwei Stunden aus, ohne sie anzurufen, ohne Verbindung zu ihr aufzunehmen, vielleicht, um sich zu vergewissern, dass sie da ist …«
»Aus was für einer Familie stammt sie?«
»Genau das ist der Punkt. Die Lebensweise ihrer Mutter eignet sich nicht gerade dafür, einen Ehemann zu beruhigen … Interessiert Sie das? Ich will versuchen, Ihnen zu erzählen, was ich weiß … Bellamys Frau heißt Odette, und ihr Mädchenname ist Godreau. Ihre Mutter stammt aus gutem Hause, Tochter eines Marineoffiziers, wenn ich mich nicht täusche … Sie war eine sehr schöne Frau, das ist sie auch heute noch.
Zwanzig Jahre lang hat sie in Les Sables die Sünde verkörpert … Ich weiß nicht, ob Sie jemals in der Provinz gelebt haben. Sie war nicht verheiratet und ließ sich aushalten … Nacheinander von zwei oder drei reichen Herren, unter anderem von Monsieur Lourceau, dem Sie in der Brasserie begegnet sind … Wenn sie vorüberging, bewegten sich die Vorhänge. Sie hat Gymnasiasten den Kopf verdreht, verheiratete Männer blickten sich auf der Straße nach ihr um. Wenn sie ein Geschäft betrat, verstummten die Gespräche, und die Damen spitzten ihre Lippen …
Sie hat zwei Töchter, denen man je nachdem verschiedene Väter zuschreibt, Odette und Lili … Aus Odette ist eine noch strahlendere Schönheit geworden als ihre Mutter, und Doktor Bellamy hat sie kennengelernt, als sie noch nicht zwanzig war …
Er hat sie geheiratet.
Sie sind ihm ja begegnet. Wie ich schon sagte, er ist eine echte Persönlichkeit. Er hat das Mädchen geheiratet, aber von der Schwiegermutter nichts wissen wollen, ihr eine Rente ausgesetzt, damit sie die Gegend verlässt … Sie soll jetzt in Paris mit einem Industriellen leben, der sich aus dem Geschäft zurückgezogen hat.
Da Odettes jüngere Schwester bei der Hochzeit erst dreizehn war, hat sich der Doktor ihrer angenommen … Er hat sie aufgezogen … Sie ist, oder vielmehr, sie war neunzehn …
Sie sind gemeinsam in Bellamys Wagen nach La Roche-sur-Yon gefahren …«
»Mit Odette?«
»Nein, allein … Lili spielte Klavier, besuchte alle Konzerte … Es gab eines in La Roche um vier Uhr, und ihr Schwager hat sie dorthin gefahren … Als sie zurückkehrten …«
»Um wie viel Uhr?«
»Kurz nach sieben … Es war noch hell und die Straße keineswegs verlassen … Ich sage Ihnen das alles, weil es von Bedeutung ist … Die Wagentür war anscheinend nicht richtig geschlossen und flog auf, Lili wurde auf die Straße geschleudert … bei hoher Geschwindigkeit. Der Doktor fährt für gewöhnlich sehr schnell, und die Polizeibeamten, die ihn kennen, halten sich zurück …«
»Also ein Unfall …«
»Ein Unfall …«
Kommissar Mansuy dachte nach, wollte noch etwas anmerken, öffnete den Mund. Maigret sah ihn fragend an. Aber er sagte nur noch einmal:
»Ein Unfall, ja …«
»Von etwas anderem kann man nicht ausgehen, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht.«
»Wie