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Die Frauen von Janowka. Helmut ExnerЧитать онлайн книгу.

Die Frauen von Janowka - Helmut Exner


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      In fast allen Familien gibt es eine Häufung bestimmter Körpermerkmale. Haarfarbe, Körpergröße oder Körperhaltung, markante Nasen, dunkle oder helle Haut, Sommersprossen, große oder kleine Füße, dicke oder schlanke Typen, je nach genetischer Veranlagung. Natürlich spielen dabei auch die Launen der Natur eine Rolle, welcher Elternteil sich bei welchem Kind durchsetzt. Aber es geht nicht nur um das äußere Erscheinungsbild bei der Feststellung verwandtschaftlicher Gemeinsamkeiten. Es gibt auch Charakterzüge, Eigenschaften, Vorlieben und Apathien, die in vielen Familien gehäuft vorkommen. Man sagt zwar: »Der hat die Liebe zu Pferden im Blut«, oder »das gute Kochen liegt in der Familie«, aber solche Eigenschaften basieren höchstwahrscheinlich auf traditionellen Lebensweisen und Erziehung innerhalb einer Familie. Dennoch ist es frappierend, wenn man über einen Zeitraum von hundert Jahren trotz Trennung der Familie über Kontinente hinweg immer wieder auf ebendiese Charaktereigenschaften, Vorlieben und Apathien stößt.

      Genauso ist es mir ergangen, als ich zum ersten Mal die Nachkommen meiner Familie traf, die vor vielen Jahren ausgewandert waren. In meiner Familie väterlicherseits sind die Menschen eher klein. Dunkles Haar, grau-grün-braune Augen und ein dunkler Teint sind untrügliche Kennzeichen der Zugehörigkeit. Bei nicht wenigen ist über Generationen hinweg der kleine Finger der rechten Hand kleiner als der an der linken. Beim ersten Kennenlernen von Familienmitgliedern ist es stets ein Anlass zum Lachen, wenn man erfährt, dass auch diese oder jene Cousine davon betroffen ist. Viele Frauen in der Familie sind von so zierlicher Statur, dass man ihnen die Zähigkeit und Kraft gar nicht zutraut, mit der sie all die vielen Kinder großziehen, ein Pferdegespann übers Feld führen, ihre Eltern oder Großeltern pflegen und sich, wenn es nötig ist, gegen alle Männer durchsetzen. Diese Familie lebte und überlebte über einen langen Zeitraum durch die Kraft dieser kleinen, unscheinbaren, dünnen, zähen Frauen.

      Ich hatte mit Tante Frieda einige Briefe gewechselt und ein paar Mal telefoniert. Sie spricht perfekt Englisch, aber nur leidlich das osteuropäische Deutsch ihrer Eltern. Ihre älteste Tochter und ihren jüngsten Sohn kannte ich schon von ihrem ersten Deutschlandbesuch her. Es war mir auf Anhieb sympathisch, dass beide klein gebaut und dunkeläugig sind. Und natürlich hatte Cousine Darlene auch diesen magischen kleinen Finger. Aber viel sympathischer war mir, dass beide trotz moderner, akademischer Berufe dem ländlichen Leben verbunden sind, Pferde, Hunde und Katzen um sich haben, Tomaten und Kartoffeln anbauen und sich in einer großen Familie mit Geschwistern, Oma, Eltern, Enkelkindern und einer unübersichtlichen Schar von Cousins und Cousinen wohlfühlen. Genau diese Lebensart kannte ich von meinem Vater, das ist es, was für mich Familie ausmacht.

      Und nun die erste Begegnung mit Frieda in Manitoba, Kanada. Klein, und obwohl mit 78 Jahren natürlich graues Haar, ist sie unverkennbar ein dunkler Typ, laut, energisch und von großer Herzlichkeit. Die Umarmung ist lang und fest. Frieda, eine Tochter der kleinen Mathilde, die im Jahr 1904 in Wolhynien ihren großen Bruder, meinen Großvater, vom Fluss nach Hause geholt hat, damit er die Butter zum Juden Salomon bringt.

      - Kapitel 5 -

      Das Dorf Janowka bestand im Jahr 1910 aus etwa sechzig Häusern, die sich größtenteils an der zum Fluss gewandten Seite der Straße reihten, so dass der Blick über die Felder bis zum Horizont reichte. Vor den Häusern gab es Blumengärten. Hinter den Häusern hatten die Leute ihre Ställe und Scheunen und natürlich große Hausgärten. Ein Stück entfernt strömte der Fluß Slusz sanft dahin. Nur im Frühjahr führte er schon mal Hochwasser. Mit einer kleinen Fähre, die von einem Franzosen betrieben wurde, konnte man übersetzen, um auf den Wiesen der Ostseite Heu zu machen und dieses dann in die Scheunen zu bringen. Am Ende des Dorfes stand das Bet- und Schulhaus, in dem der Küster mit seiner Familie wohnte. Sonntags wurde hier Gottesdienst gehalten, der entweder vom Küster oder dem Gemeindeältesten geleitet wurde. Der Pastor wohnte in Tuczyn und war für 56 solcher Bet- und Schulgemeinden zuständig. Die meisten Dörfer besuchte er nur zweimal im Jahr, um neben der Schulinspektion Konfirmationen durchzuführen, Taufen und Sterbefälle durch seine Unterschrift zu bestätigen. Taufen und Sterbegottesdienste wurden vom Küster oder anderen Gemeindemitgliedern durchgeführt. Zum Heiraten reisten die meisten Brautpaare nach Tuczyn, mit Pferd und Wagen immerhin eine Fahrt von mehreren Stunden.

      Aus Janowka gingen zu der Zeit etwa vierzig Kinder in die Schule, dazu gesellten sich noch einige aus der Kolonie Janowka, die sich an das Dorf anschloss und aus einer Handvoll Bauerngehöften bestand. Auch die Kinder aus der Kolonie Solomiak, die zwei Kilometer entfernt war, kamen ein paar Schüler. Es bestand eine sechsjährige Schulpflicht für alle evangelischen Kinder. So etwas gab es nur in Wolhynien und zum Teil noch bei den Mennoniten im Schwarzmeerbereich. Die meisten Menschen im russischen Riesenreich waren Analphabeten. Sommer- und Herbstferien waren allerdings sehr lang, da die Eltern auf die Hilfe der Kinder bei der Feldarbeit angewiesen waren. Ziel des Unterrichts war es, den Kindern Lesen und Schreiben beizubringen, damit sie in der Lage waren, die Heilige Schrift zu lesen. Dass man diese Kenntnisse auch für viele andere Belange gut gebrauchen konnte und darüber hinaus auch noch Rechnen lernte, und je nach Bildungsstand des Lehrers einiges darüber hinaus, verstand sich von selbst. Der Küster, der kein ausgebildeter Lehrer war, führte ein strenges Regiment in der Einraum-Schule mit vierzig bis fünfzig Kindern. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts war der evangelischen Kirche das Schulwesen aus den Händen genommen worden, und es sollte vor allem Russisch gelernt werden. Deutschunterricht war nur zwischen acht und neun Uhr morgens erlaubt. Da die russische Verwaltung aber nicht in der Lage war, Lehrer zu stellen, sah man das nicht so eng, jedenfalls in den Dörfern. Russisch lernte man ohnehin im praktischen Leben, dazu Ukrainisch, Polnisch und Jiddisch.

      Es gab deutsche, ukrainische, polnische, russische, mennonitische und jüdische Dörfer. Und es gab größere Orte mit einer Mischung aus vielen Nationalitäten und Religionen. Alle standen miteinander in Kontakt, jeder respektierte die Eigenheiten der anderen.

      Fast alle Einwohner waren Bauern, und viele übten nebenbei auch noch ein Handwerk aus. Es gab auch einige hauptberufliche Unternehmer wie den Schmied, den Müller und ein paar andere, die keine Landwirtschaft

      betrieben. Zu jedem Wohnhaus gehörten Ställe und Scheunen sowie ein Garten für Obst- und Gemüseanbau. Die Kühe des Dorfes wurden morgens von einem Hirten abgeholt, tagsüber zentral auf einer Weide außerhalb des Dorfes beaufsichtigt und abends wieder in ihre heimischen Ställe gebracht, wobei jede Kuh ihren Weg selbst zurück fand. Die Felder lagen zum Teil weit außerhalb. Jede Familie arbeitete für sich, aber gegenseitige Hilfe war selbstverständlich. Einige Männer arbeiteten auch in den weiter entfernten Städten und kamen nur am Sonntag nach Hause. Wer gar in Shitomir arbeitete, konnte nur selten kommen, verdiente aber meist recht gut.

      Viele Nutzflächen waren erst in den letzten Jahrzehnten der Natur abgerungen und der Landwirtschaft zugänglich gemacht worden. Neben Viehweiden, Kornfeldern und Kartoffeläckern gab es Obstbäume. Aus dem Überfluss an Obst, das man nicht konservieren konnte, wurde Obstwein hergestellt oder Schnaps gebrannt, was für viele eine zusätzliche Einnahmequelle darstellte, auch wenn es illegal war. Lizenzen zum Schnapsbrennen mussten teuer bezahlt werden. Man war Selbstversorger. Butter, Käse, Fleisch, Obst, Gemüse und das Mehl zum Brotbacken produzierte jeder selbst. Und wenn es an irgend etwas mangelte, konnte man mit Nachbarn tauschen. Die flache Landschaft, die Felder von Wald eingesäumt, könnte man als lieblich bezeichnen. Die Sommer waren heiß und manchmal auch trocken, die Winter konnten eisig kalt sein, wenn der Wind von Osten kam.

      »Katlika, lass dich nicht von der Mutter erwischen«, rief Friedrich, als er von seinem Garten aus beobachtete, wie seine Schwester Mathilde, die jeder nur noch Katlika nannte, mit dem achtzehnjährigen Eduard Ehmke Richtung Fluss eilte.

      Aber das sechzehnjährige Mädchen, das aufgrund ihrer Größe aussah wie eine Zwölfjährige, winkte nur fröhlich. Sie wusste genau, dass ihr großer Bruder nicht petzen würde. Natürlich hatte Mutter Christine ihr streng verboten, sich mit Jungen herumzutreiben. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass sie verliebt war. Das Flussufer mit seinem Schilf bot Liebespaaren


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