Systemrelevant. Burkhard HoseЧитать онлайн книгу.
Politische Entscheidungen galten als »alternativlos«, wenn sie sich auf Empfehlungen von Virologen stützten. So wie in Zeiten der Verunsicherung durch Terroranschläge ein Heer von »Terrorexpert*innen« in Fernsehsendungen und auf Internetplattformen zu Wort kommen, so werden nun Virolog*innen zu Rate gezogen, um die Welt zu erklären und wenigstens ein bisschen Sicherheit zu bieten. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es inzwischen schon die scherzhafte Frage: »Und wer ist dein Lieblingsvirologe?« Längst scheinen Forscher wie Drosten nicht nur als medizinische Fachleute gefragt zu sein, sondern als Welterklärer oder Sinngeber. Um verschiedene Expertenmeinungen gruppieren sich Anhängerschaften, die sich gegenseitig bekämpfen, und der in der Wissenschaft eigentlich normale Streit um verschiedene Theorien wird zu so etwas wie einem Bekenntnisstreit. Virologen werden inzwischen verehrt oder angefeindet. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden in der Öffentlichkeit kaum mehr nüchtern wahrgenommen und zu Rate gezogen, sondern wie Bekenntnisse angenommen oder abgelehnt. Weder der Staat noch die Wissenschaft bieten die Sicherheit, die sich viele Menschen in der Krise von einer zuverlässigen Instanz erwarten.
Vielleicht ist dies eine der Gewissheiten, die ich in den vergangenen Monaten für mich gewonnen habe: Es ist meine Aufgabe als Mensch, mit einem gewissen Maß an Unsicherheit mein Leben zu gestalten. Keine Instanz von außen kann mir diese Verantwortung abnehmen. Und es bleibt die Aufgabe einer demokratischen Gesellschaft, das Zusammenleben mit einem gewissen Maß an Unsicherheit zu organisieren. Nur totalitäre Systeme spiegeln absolute Sicherheit vor. Und alle autoritär geprägten politischen Machthaber, die in den vergangenen Monaten meinten, ein Virus wie eine unliebsame politische Meinung leugnen oder unterdrücken zu können, wurden in ihrer vermeintlichen Sicherheit entlarvt. Das Leben mit dem Virus offenbart ein Leben mit dem Ungefähren und Mehrdeutigen. Und das verbindet die durch Corona ausgelöste Krise mit den anderen Herausforderungen, die augenblicklich für Verunsicherung sorgen: Der Klimawandel und die Migrationsbewegungen stellen in gleichem Maße alte Ordnungen und Gewissheiten infrage wie das Virus. Und nur zu einem Teil bieten der Staat oder die Wissenschaften hier Sicherheit oder auch nur Orientierung.
Ich mache mich also selbst auf die Suche nach dem, was jetzt wichtig ist und Orientierung gibt. Ich will mich nicht auf vermeintliche Heilsbringer in der Politik oder Wissenschaft verlassen, auch nicht auf »Held*innen« in den Krankenhäusern, an die ich meine persönliche Verantwortung abgebe. Ich will selbst beobachten, erforschen und entdecken, was für mich in der Unsicherheit Bedeutung hat, relevant sein könnte für mein Leben und für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Und ich ahne, dass bei meiner fiktiven Reise in die Zukunft im Rückblick auf die gegenwärtige Krise mehr zu entdecken sein wird als Witze über die Systemrelevanz von Klopapier.
Will ich mein altes Leben zurück?
Es sind diese typischen Augenblicke in Corona-Zeiten: Früh, nach dem Aufstehen, male ich mir für einen Moment aus, wie es wäre, wenn das alles nur ein schlechter Traum wäre. Tatsächlich gibt es diese Sekunden, in denen mir wie ein kurzer Gedankenblitz die Idee durch den Kopf schwirrt, ich bewegte mich in einem Film und all das, was ich gerade an Herausforderungen um mich herum wahrnehme, sei nur Teil einer großen Story, also gar nicht real. Als Kinder haben wir uns beim Spielen manchmal gegenseitig gezwickt, um sicher zu sein, dass wir tatsächlich nicht träumen, sondern dass es stimmt, was wir gerade erleben.
Spätestens, wenn ich morgens dann die Nachrichten höre, weiß ich, dass es nicht nur ein böser Traum ist. Die dumpfe Gewissheit meldet sich zurück: Corona ist real. Das Virus hält nicht nur mich und mein Leben im Griff, es hat die ganze Welt erfasst. Es kommt mir so vor, als sei die Welt angehalten worden und sämtliche Alltage auf diesem Globus stünden auf unbestimmte Zeit still. Das Bedürfnis, endlich aus diesem bösen Traum wieder aufzuwachen, oder die Vorstellung, das könne doch jetzt nicht die Realität sein, sind letztlich Anzeichen der eigenen Überforderung, mich der neuen Realität zu stellen. Die heftigste Realitätsflucht, die sich in den Monaten der Pandemie bei manchen Menschen bis in meinen Bekannten- und Freundeskreis hinein herausgebildet hat, ist die Flucht in Verschwörungstheorien. Corona sei eine Erfindung, existiere gar nicht. Abgesehen von denen, die mit solchen Narrativen politische oder andere Ziele verfolgen, gibt es viele Menschen, die Verschwörungstheorien auf den Leim gehen, weil sie für einen Moment die Erlösung von der Realität versprechen. Ich höre auf einmal von Menschen, denen ich das nicht zugetraut hätte, Fragen wie »Sag mal, glaubst du das eigentlich mit Corona?«. Zwischen den Zeilen nehme ich einen unausgesprochenen Hilferuf wahr: »Ich komme mit dieser Situation nicht zurecht. Das kann doch gar nicht wahr sein, was ich da erlebe. Zwick mich mal. Ich will meine alte Realität wieder!«
Auch ich wünsche mir mein altes Leben zurück: meinen gewohnten Tagesablauf, meinen Blick früh in die Zeitung, die einfach von Ereignissen aus der Politik, aus Kultur und Sport berichtet und mich nicht jeden Tag mit neuen Infektionszahlen begrüßt. Ich sehne mich danach, durch eine belebte Fußgängerzone zu schlendern, Gesichter von Menschen wahrzunehmen, ganz ohne Maske. Ich wünsche mir die vielen Begegnungen mit Menschen zurück, die meinen Alltag ausmachen, Händeschütteln und Umarmungen. All das fehlt mir. Zwischendurch muss ich mich selbst und manchmal auch andere Menschen in meinem Umfeld daran erinnern, dass in meinem »alten Leben« ja auch nicht alles besser war und dass dieses Kreisen um die Vergangenheit eigentlich immer negative Gefühle weckt, selbst wenn ich mich an Schönes erinnere. Immer ist es verbunden mit dem Gefühl, dass ich etwas verloren habe. Die Sehnsucht nach dem »alten Leben« bewirkt vor allem eines: Sie führt mich weg von der Gegenwart, von dem, was ich jetzt gerade sehe und erlebe. Diese Gegenwart ist voller Unsicherheit, aber sie ist nicht nur schlecht. Vor allem ist es die einzige Realität in meinem Leben, die ich jetzt wirklich wahrnehmen und gestalten kann.
Wenn ich mit Freund*innen oder im Kreis der Kolleg*innen alten Zeiten nachtrauere, komme ich mir manchmal vor wie das Volk Israel in der Wüste. Es ist nicht umsonst in unseren allgemeinen Wortschatz eingegangen, sich »nach den Fleischtöpfen Ägyptens« zurückzusehnen. Die biblische Geschichte hinter dieser Redewendung beschreibt die Unzufriedenheit der Israeliten nach ihrem Auszug aus Ägypten. Als sie in der Wüste Hunger leiden, beginnen sie sich nach dem Essen im Land ihrer Unterdrückung zurückzusehnen. Ihren Anführern machen sie schwere Vorwürfe: »Die ganze Gemeinde der Israeliten murrte in der Wüste gegen Mose und Aaron. Die Israeliten sagten zu ihnen: Wären wir doch im Land Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und Brot genug zu essen hatten. Ihr habt uns nur deshalb in diese Wüste geführt, um alle, die hier versammelt sind, an Hunger sterben zu lassen« (Exodus 16,2–3). In ihrem aktuellen Hunger vergessen sie beinahe, dass der jetzigen Unsicherheit die Befreiung aus der Sklaverei vorausgegangen ist.
Für mich persönlich sollte eigentlich der Blick in meinen übervollen Terminkalender vergangener Zeiten genügen, um mir vor Augen zu führen, dass in meinem alten Leben auch viel Unfreiheit steckte. Ich wurde durch das Virus eben nicht aus einer heilen Welt herausgerissen, sondern in manchem auch in eine persönliche Wüste geführt, die nicht nur für schmerzliche Leere, sondern auch für eine neue Klarheit sorgt. Mir werden auch die Augen für das geöffnet, was mich in meinem alten Leben gefangen hielt. Könnte es sein, dass nach der »Wüstenzeit« sogar so etwas wie »Gelobtes Land« auf mich wartet? Damit will ich weder die Phase jetzt schönreden noch will ich mir eine bessere Zukunft herbeiträumen. Aber zumindest will ich mit der Möglichkeit rechnen, die mir die biblische Erzählung von der Wüstenzeit des Volkes Israel ans Herz legt: Die Leere und Verunsicherung, die du jetzt erlebst, ist eine wichtige Phase der Klärung. Es ist eine Durchgangsphase, die aber nicht nur überstanden, sondern gelebt werden will. Es geht also erst einmal darum, wahrzunehmen, was jetzt ist. Dazu gehört auch diese Wahrnehmung: Viele Menschen, mit denen ich arbeite und lebe, sind wie aus meinem Alltag verbannt. Begegnungen finden mit manchen von ihnen nur noch am Telefon, per Mail oder Videokonferenzen statt. Es gibt Phasen, in denen ich mir abends im Fernsehen keine Nachrichten mehr ansehe. Mir tut es nicht gut, kurz vor dem Schlafengehen zu erfahren, dass sich die Welt nur noch um eins zu drehen scheint: um ein Virus, das die Kontrolle über unsere Alltage übernommen hat.
Und während ich noch an meinen alten Gewohnheiten klammere, merke ich, wie schnell ich mich an den Ausnahmezustand gewöhnt habe. Sich nicht mehr die Hand zu geben oder sich zu umarmen, Menschen auf der Straße aus dem Weg zu gehen und sich unzählige Male am Tag die Hände zu waschen, die Arbeit so zu organisieren, dass man sich möglichst