Geteilt durch Null. Ted ChiangЧитать онлайн книгу.
grüßten sie die Bergarbeiter freundlich und wünschten ihnen Glück bei ihrer Aufgabe am Himmelsgewölbe. Sie lebten inmitten der klammen Wolkennebel, sahen Stürme von oben und unten, ernteten Obst und Gemüse aus der Luft und fürchteten nie, dass dieser Ort für Menschen unangemessen sein könnte. Ihr Leben war bar göttlicher Versprechen und Ermunterungen, und dennoch waren ihnen Zweifel fremd.
Im Laufe der Wochen kamen sie dem höchsten Punkt, den Sonne und Mond erreichten, jeden Tag immer näher und näher. Der Mond tauchte die Südseite des Turmes in seinen Silberschein und leuchtete, als starre das Auge Jahwes sie an. Alsbald befanden sie sich auf einer Ebene mit dem Mond, wenn er seine Bahn zog; sie hatten die Höhe des ersten Himmelskörpers erreicht. Verwundert blinzelten sie ihm in sein narbiges Gesicht, staunten über das würdevolle Fortschreiten dieser Kugel, die jeglichen Halt verschmähte.
Dann näherten sie sich der Sonne. Es war Sommer, und so schien die Sonne fast über Babylon zu stehen, und sie kam dem Turm immer wieder sehr nahe. In diesem Bereich des Turmes lebten keine Familien, und es gab auch keine Balkone, da die Hitze stark genug war, um Gerste zu rösten. Der Mörtel zwischen den Steinen bestand nicht länger aus Pech, das weich und flüssig geworden wäre, sondern aus Tonerde, die von der Hitze buchstäblich gebacken worden war. Zum Schutz vor den Tagestemperaturen waren die Säulen hier breiter, bis sie fast eine durchgehende Mauer bildeten, welche die Rampe in einen Tunnel einschloss, nur mit schmalen Schlitzen versehen, die den pfeifenden Wind und goldene Lichtklingen hindurchließen.
Bisher hatten sich die Karrenzieher ihren Tagesablauf einigermaßen regelmäßig eingeteilt, doch nun war eine Änderung vonnöten. Jeden Morgen machten sie sich ein wenig früher auf den Weg, um ihr anstrengendes Werk möglichst bei Dunkelheit zu verrichten. Als sie sich mit der Sonne auf einer Höhe befanden, gingen sie nur noch nachts weiter. Tagsüber versuchten sie zu schlafen, nackt und in der heißen Brise schwitzend. Die Bergarbeiter machten sich Sorgen, dass sie, wenn sie denn überhaupt Schlaf fanden, vor Hitze gar nicht mehr aufwachen würden. Doch die Karrenzieher hatten diese Wegstrecke viele Male zurückgelegt und nie auch nur einen Mann eingebüßt, und schließlich ließen sie die Sonne unter sich zurück, und alles war wieder wie vorher.
Das Tageslicht schien nun aufwärts, was über die Maßen unnatürlich wirkte. Von den Balkonen hatte man einzelne Bretter entfernt, sodass das Sonnenlicht durch die Schlitze auf die Erde scheinen konnte, die man dazwischen aufgehäuft hatte. Die Pflanzen wuchsen seitwärts und nach unten, reckten sich den Sonnenstrahlen entgegen.
Dann näherten sie sich der Höhe der Sterne, kleinen, feurigen Kugeln, die überall am Himmel verstreut waren. Hillalum hätte erwartet, dass sie dichter beieinanderliegen würden, doch obwohl es viele kleinere Sterne gab, die von der Erde aus nicht zu erkennen waren, schienen sie ihm hier dünn gesät. Die Sterne befanden sich nicht alle auf einer Höhe, sondern begleiteten sie lange Zeit auf ihrem Weg nach oben. Es war schwer zu sagen, wie weit weg sie waren, da es keinen Vergleich für ihre Größe gab, doch hin und wieder glitt einer von ihnen dicht an ihnen vorbei und stellte dabei seine erstaunliche Geschwindigkeit unter Beweis. Da wurde Hillalum klar, dass alle Himmelskörper sich so schnell über das Firmament bewegten, denn sonst hätten sie die Strecke von einem Rand der Welt zum anderen nicht an einem Tag zurücklegen können.
Tagsüber war das Blau des Himmels weit blasser, als es von der Erde aus den Anschein hatte, ein Anzeichen dafür, dass sie sich dem Himmelsgewölbe näherten. Wenn Hillalum den Himmel genauer betrachtete, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass die Sterne am Tage zu sehen waren. Von der Erdoberfläche aus konnte man sie gegen den grellen Schein der Sonne nicht erkennen, doch hier oben zeichneten sie sich deutlich ab.
Eines Tages kam Nanni auf ihn zugeeilt und sagte: »Ein Stern ist in den Turm eingeschlagen!«
»Was!« Hillalum sah sich panisch um, als ob ihm jemand einen Schlag versetzt hätte.
»Nein, nicht jetzt. Das ist schon lange her, mehr als ein Jahrhundert. Einer der Turmbewohner erzählt die Geschichte gerade – sein Großvater war dabei.«
Sie begaben sich in die Korridore im Turm und stießen auf einige Bergarbeiter, die sich um einen verhutzelten alten Mann geschart hatten. »… steckte in der Mauer fest, etwa eine halbe Meile über uns. Ihr könnt immer noch die Scharte sehen, die er hinterlassen hat; wie eine riesige Pockennarbe.«
»Was ist mit dem Stern geschehen?«
»Er brannte und zischte und war so hell, dass niemand ihn ansehen konnte. Es wurde erwogen, ihn herauszubrechen, damit er weiter seine Bahn ziehen konnte, aber er war zu heiß, um sich ihm zu nähern, und man wagte es nicht, ihn zu löschen. Wochen später hatte er sich abgekühlt und war zu einem Klumpen schwarzen Himmelsmetalls geworden, so groß, dass ein Mann kaum die Arme um ihn legen konnte.«
»So groß?«, sagte Nanni, die Stimme voller Ehrfurcht. Wenn Sterne von selbst vom Himmel fielen, fand man manchmal kleine Klumpen des Himmelsmetalls, härter als selbst die beste Bronze. Man konnte dieses Metall nicht einschmelzen, sondern nur mit dem Hammer bearbeiten, wenn es rotglühend erhitzt wurde; Amulette wurden daraus gemacht.
»In der Tat, niemand hat je davon gehört, dass ein so großer Klumpen auf der Erde gefunden worden wäre. Könnt ihr euch die Werkzeuge vorstellen, die man aus ihm hätte machen können!«
»Habt ihr etwa versucht, Werkzeuge aus ihm zu schmieden?«, fragte Hillalum entsetzt.
»O nein. Die Leute hatten Angst, ihn anzufassen. Alle stiegen vom Turm herab und warteten darauf, dass Jahwe Vergeltung üben würde, weil sie den Lauf der Schöpfung gestört hatten. Sie warteten monatelang, aber kein Zeichen wurde gesehen. Schließlich kehrten sie zurück und brachen den Stern heraus. Nun ruht er in einem Tempel, unten in der Stadt.«
Alle waren still. Dann sagte einer der Bergarbeiter: »In den Geschichten über den Turm habe ich nie etwas davon gehört.«
»Es war eine Verfehlung, etwas, worüber man nicht spricht.«
Die Farbe des Himmels wurde immer blasser, je höher sie auf den Turm stiegen, bis Hillalum eines Morgens aufwachte, an den Rand der Rampe trat und bestürzt aufschrie: Was bisher wie ein fahler Himmel ausgesehen hatte, schien nun eine weiße Decke zu sein, die sich weit über ihren Köpfen erstreckte. Jetzt waren sie nahe genug, um das Himmelsgewölbe zu sehen, um es als eine feste Schale zu erkennen, die den Himmel umschloss. Die Bergarbeiter sprachen alle im Flüsterton, starrten nach oben wie Idioten, während die Turmbewohner sie auslachten.
Im weiteren Verlauf des Aufstiegs stellten sie überrascht fest, wie nahe sie tatsächlich schon waren. Die weiße Oberfläche des Himmelsgewölbes hatte sie getäuscht – es war fast nicht wahrnehmbar, bis es plötzlich direkt über ihren Köpfen zu sein schien. Nun stiegen sie nicht mehr himmelwärts, sondern hinauf zu einer gleichförmigen Ebene, die sich endlos in alle Richtungen dahinzog.
Alle Sinne Hillalums waren von dem Anblick verwirrt. Wenn er zum Himmelsgewölbe blickte, kam es ihm manchmal so vor, als sei die Welt auf den Kopf gestellt worden, als würde er, wenn er den Halt verlöre, nach oben auf das Gewölbe zustürzen. Seit das Gewölbe über ihm aufgetaucht war, schien es buchstäblich auf ihm zu lasten– so schwer wie die ganze Welt und doch ohne jede Stütze. Eine Angst suchte ihn heim, die er in den Minen nie gekannt hatte: dass die Decke über ihm zusammenbrechen könnte.
Es gab auch Momente, in denen ihm das Gewölbe wie eine vertikale Klippe von unvorstellbarer Höhe vorkam, die sich vor ihm erhob, und die blasse Erde hinter ihm schien genauso eine Klippe zu sein, und der Turm ein Seil, das zwischen beiden straff gespannt war. Am Entsetzlichsten aber war, dass es für einen Augenblick kein Oben und Unten mehr gab und sein Körper nicht wusste, wohin es ihn zog. Das war wie Höhenangst, nur viel schlimmer. Oft erwachte er aus unruhigem Schlaf und bemerkte, dass er schwitzte und seine Finger sich in dem Versuch, sich am Steinboden festzuklammern, verkrampft hatten.
Nanni und viele andere Bergarbeiter schliefen ebenfalls schlecht, obwohl keiner von ihnen über das sprach, was ihre Ruhe störte. Sie kamen immer langsamer voran, und nicht etwa schneller, wie es Beli, ihr Vorarbeiter, erwartet hatte; der Anblick des Gewölbes bereitete ihnen Unbehagen, anstatt ihren Eifer zu befeuern.
Die regulären