Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Helen PerkinsЧитать онлайн книгу.
bin auch nicht gebunden. Es liegt daran, dass ich einen so anspruchsvollen Job habe. Ich komme eigentlich kaum dazu, auszugehen, Bekanntschaften zu schließen …« Er blickte sinnend vor sich hin, bis Dr. Gruber ihn bat, weiterzureden.
»Ich erinnere mich daran, dass die Firma, für die ich arbeite, Hochtief Schuhmann heißt. Und ich erinnere mich daran, dass meine Eltern beide tot sind.«
»Haben Sie Geschwister?«
Mark nickte langsam. »Eine Schwester, ihr Name ist Lisa.«
»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Schwester, Herr Hansen.«
Mark dachte eine Weile nach, dann schüttelte er leicht den Kopf. »Ich kann mich nicht genau erinnern, es ist irgendwie verschwommen. Sie war verheiratet. Und da ist auch ein Kind, aber ich … kriege das einfach nicht zusammen, tut mir leid.«
»Das macht nichts. Da ist so viel, woran Sie sich erst wieder neu erinnern müssen. Ihr Kopf leistet Schwerarbeit. Lassen Sie ihm Zeit, überfordern Sie sich selbst nicht, das hat noch nie etwas eingebracht. Ich sehe später wieder nach Ihnen.«
»Warten Sie, Frau Doktor. Ich weiß jetzt, wie ich heiße und wo ich wohne. Da müsste es doch möglich sein herauszufinden, wieso ich nach München gekommen bin, was ich hier will. Ich habe nämlich die ganze Zeit das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen.«
»Ich werde mal mit dem zuständigen Polizisten reden.«
»Das wäre sehr nett von Ihnen, danke!« Er lächelte ihr so strahlend zu, dass Amelies Herz anfing, viel zu schnell zu schlagen. Rasch verließ sie das Krankenzimmer und mahnte sich selbst zu etwas mehr Abstand.
Es war unprofessionell, Gefühle für einen Patienten zu entwickeln. Amelie Gruber hatte Kollegen, denen das passierte, bislang belächelt. Nun sah es allerdings so aus, als hätte sie ihre überlegene Warte als Beobachter menschlichen Lebens ohne es zu merken verlassen. Mark Hansen hatte ihr Herz berührt, daran konnte es nun keinen Zweifel mehr geben. Ob zum Guten oder zum Schlechten, das musste sich erst noch erweisen …
*
Lisa schaute sich hektisch im Zimmer um. Sie schien nichts vergessen zu haben. Ihre Koffer waren gepackt, den kurzen Weg zum Bahnhof wollte sie zu Fuß zurücklegen.
»Fahren wir jetzt zu Onkel Mark?«, fragte Torben.
Die junge Frau nickte zerstreut. »Ja, wir fahren …« Sie verstummte, als das Zimmertelefon zu läuten begann. Das war bislang noch kein einziges Mal geschehen und bedeutete, dass die Dame an der Rezeption etwas von ihr wollte. Doch was?
Lisa überlegte fieberhaft. Sie hatte die Rechnung in bar bezahlt, alles hatte seine Ordnung. Was …
»Wer ruft uns denn an, Mama?«, wollte Torben wissen. »Soll ich ran gehen? Ich weiß, wie man sich meldet.« Er wollte schon nach dem Hörer des altmodischen Apparats greifen, da schüttelte seine Mutter den Kopf und murmelte: »Lass nur, ich mache das.«
Es war tatsächlich die Empfangsdame. »Frau Hansen?«, hörte Lisa ihre freundliche Stimme. »Ich weiß, Sie wollten gerade abreisen, aber nun ist er doch noch eingetroffen.«
»Eingetroffen?«, wiederholte Lisa irritiert, während ihr Herz vor Angst zum Zerspringen klopfte. »Wer denn?«
»Ihr Bruder, Mark Hansen. Er steht hier neben mir und lässt fragen, ob er zu Ihnen hinaufkommen darf.«
Für ein paar Sekunden wusste die junge Frau nicht, was sie tun oder sagen sollte. Sie war einfach zu überrascht, völlig perplex. Mark war endlich gekommen? Aber das war … wunderbar!
Lisa atmete laut auf, ein erleichtertes Lächeln brachte ihre ebenmäßigen Züge zum Strahlen. Die unerträgliche Anspannung der vergangenen schlimmen Tage fiel von ihr ab, und sie hatte das Gefühl, federleicht und einfach nur glücklich zu sein.
»Frau Hansen, sind Sie noch da?«, erkundigte sich die Empfangsdame irritiert, als das Schweigen am anderen Ende der Leitung einfach zu lange dauerte.
»Ja, ich …« Lisa musste schlucken, sich räuspern, denn ihre Stimme kippte. Sie spürte Tränen der Erleichterung in ihren Augen brennen. »Herr Hansen soll hinaufkommen!«, rief sie, warf den Hörer auf die Gabel und eilte aus dem Zimmer, um ihren Bruder, der ihr mehr denn je wie ein rettender Engel erschien, in die Arme zu schließen.
Mit wenigen Schritten hatte sie den schmalen Gang hinter sich gelassen und den Treppenabsatz erreicht. Sie hörte Schritte von unten und rief: »Mark, endlich! Wo hast du nur so lange …«
Mitten im Satz schienen die Worte in Lisas Hals stecken zu bleiben. Zugleich hatte sie das Gefühl, als friere ihre Umgebung ein, entferne sich wie hinter Nebel und trete trotzdem überdeutlich scharf hervor.
Die altmodische Tapete an den Wänden, die schäbigen Läufer auf der Trepppe, das Geländer aus dunkel lackiertem Holz, das verblasste Werbeplakat vom Oktoberfest … und inmitten all dieser Belanglosigkeiten Kai Wagner! Er kam mit raschen Schritten die schmale Treppe hinauf, näherte sich ihr, als wäre nichts dabei, als hätte sie ihn erwartet. So als wäre alles ganz normal.
Doch nichts war normal. Und dann trafen sich ihre Blicke. Lisa stieß einen unterdrückten Entsetzenslaut aus, als sie die Kälte in Kais Augen sah. Und die Wut. Hatte sie in den paar Tagen allein bereits vergessen, wie es sich anfühlte, in diesem kalten Spiegel nur Leid und das Versprechen von Angst und Schmerzen zu erblicken? Hatte sie sich zu lange in Sicherheit gewiegt, angefangen, nachlässig zu werden, Kai zu unterschätzen, seinen Irrsinn nicht mehr als das zu sehen, was er war? Ebenso allumfassend wie vernichtend? Nun aber, im Bruchteil einer Sekunde, kehrte die Gewissheit all dessen, vor dem sie so panisch und sinnlos geflohen war, zurück, erfüllte ihr Fühlen und Denken und brachte eine kalte Todesangst mit sich, die mit nichts anderem zu vergleichen war, was Lisa je erlebt hatte. Dabei war sie sozusagen ein Profi als Opfer und Leidtragende.
Im nächsten Augenblick schienen sich alle Stromkreise in ihrem Körper zu schließen und den Fluchtreflex zu aktivieren. Sie warf sich auf dem Absatz herum und wollte laufen. Doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie es sich wünschte. Sie schienen aus Blei zu sein, festgewachsen am Boden, unwillig, sie in Sicherheit zu bringen, bewegten sie sich nur in Zeitlupe. Verzweifelt kämpfte Lisa.
»Bleib hier!«, hörte sie Kai zischen. Er war direkt hinter ihr, und diese Erkenntnis pushte ihr Adrenalin noch einmal in einer steilen Spitze nach oben, sodass sie alle Willenskraft aktivieren konnte, um ihm zu entkommen. Lisa sah bereits die Zimmertür in greifbarer Nähe, und – zu ihrem grenzenlosen Entsetzen – Torben, der in der offenen Tür stand.
Sie öffnete den Mund und schrie: »Geh ins Zimmer, schließ ab, schnell!«, doch es war zu spät. Torben starrte geschockt auf Kai, dessen Rechte sich in Lisas Haar grub und sie mit einem Ruck nach hinten zerrte. Sie schrie. Und sie fiel. Unterbewusst hörte sie ihren Sohn weinen. Kai packte sie an den Schultern, zog sie hoch, presste sie gegen die Wand und herrschte sie mit gedämpfter Stimme an: »Nimm dich gefälligst zusammen, du Stück Malheur! Du hast mir genug Ärger gemacht! Sei still!« Er schüttelte sie, bis nur noch ein leises Wimmern über ihre Lippen drang. Durch einen Schleier von Tränen starrte sie ihn an wie ein hypnotisiertes Kaninchen die Schlange. Kai nickte. »Schon besser. Du kommst jetzt mit, ohne Aufsehen, verstanden?«
»Mama!« Torben stürmte auf sie zu und umfing sie mit seinen kurzen Ärmchen. »Geh weg, lass sie in Ruhe!«
Kai reagierte nicht auf den Jungen, seine ganze Aufmerksamkeit war auf Lisa gerichtet. »Los, beweg dich!«
»Wo ist Mark?«, flüsterte sie tonlos. »Was hast du ihm angetan?«
»Nicht mehr, als ich dir antun werde«, versprach er ihr mit einem kleinen, kalten Lächeln.
»Lass meine Mama in Ruhe!« Torben begann, mit seinem Fäustchen auf Kai einzuschlagen. Der zuckte nicht mit dem Wimper, packte den Jungen am Schlafittchen und warnte ihn: »Lass das, oder es wird deiner Mama noch sehr viel schlechter gehen!«
»Mama, Mama, Hilfe!« Torben wehrte sich wie wild, Lisa versetzte Kai einen Stoß, der ließ den Jungen los, ging daraufhin