Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Helen PerkinsЧитать онлайн книгу.
und war opulent tätowiert. Sein Gesicht verschwand hinter einer Skimaske. Der Dritte war klein und dick. Sein rötliches Haar stand fettig von seinem runden Kopf ab. Er trug eine billige Sonnenbrille und erinnerte Mark an Schweinchen Dick. Doch das Ganze war nicht zum Lachen, das schien klar.
»Los, rück die Penunze raus, Alter, oder du wirst es bereuen«, forderte der Tätowierte rüde.
»Ich gebe euch was, aber bleibt ruhig!«, erwiderte Mark.
Der kleine Dicke kicherte. »Spendabel, was?«
Als Mark nach seiner Brieftasche griff, traf ihn ein brachialer Schlag auf den Hinterkopf. Er hatte das Gefühl, als müsse sein Schädel bersten, meinte, ein hässliches Knirschen zu hören, und sah zugleich tausend Sterne vor seinen Augen explodieren. Kaum eine Sekunde später verglühten sie im Schwarz einer Neumondnacht. Der junge Ingenieur ging zu Boden. Die drei Kerle machten sich wie Aasgeier über seine Sachen her, stahlen alles von Wert und waren kaum zwei Minuten später wie vom Erdboden verschluckt.
Es dauerte noch gut eine halbe Stunde, bis zwei Beamte der Bahnhofspolizei den Bewusstlosen auf ihrer Streife fanden. »Sieht übel aus«, sagte einer von ihnen, der einen Notarzt und die Kollegen von der Kriminalpolizei alarmierte. »Raubüberfall. Der Mann hat nichts mehr bei sich, keine Papiere, kein Geld.«
Sein Kollege hatte Mark vorsichtig in eine entlastende Lage gebracht und erhob sich nun. »Er lebt noch. Aber der Puls ist sehr schwach. Hoffentlich kommt der Notarzt bald.«
*
»Sie sollten jetzt gleich los fahren.« Elfriede Kramer schaute Lisa beklommen an. Sie dachte an den Streit, den ihr Mann am Vorabend wegen einer Nichtigkeit vom Zaun gebrochen hatte. Lisa war sehr bemüht gewesen, ruhig zu bleiben, Kai nicht unnötig zu provozieren. Doch er fand immer einen Grund, sie zu beschimpfen, ihr absurde Vorwürfe zu machen und sie mit seiner sinnlosen Eifersucht zu quälen. Schließlich hatte der Abend mit einem blauen Auge für Lisa geendet. Torben war weinend und verschreckt in seinem Zimmer verschwunden und bislang nicht mehr heraus gekommen. Der Junge hatte den ganzen Tag nichts gegessen, war nicht zur Schule gegangen. Elfriede Kramer ahnte, dass dies die letzte Gelegenheit war, Lisa und ihren Buben aus dem Haus zu schaffen. Wer konnte sagen, was als Nächstes kam?
»Ich habe mit meinem Bruder ausgemacht, dass wir uns erst morgen in der Pension treffen. Vielleicht ist er noch gar nicht dort«, murmelte Lisa bekümmert. Sie war einmal mehr völlig eingeschüchtert und wagte es kaum, einen Fuß vor das Haus zu setzen. Obwohl nun alles mit Mark abgesprochen war, fühlte Lisa sich unsicher und voller Angst.
»Das ist egal. Sie müssen hier raus!«, beharrte Elfriede.
Lisa seufzte schwer. »Ja, Sie haben recht. Kai kommt erst später, da ist ein Empfang im Interconti, an dem er teilnimmt. Es ist wohl die beste Möglichkeit, die sich uns bietet.«
»Die beste und vielleicht die einzige Möglichkeit. Ich hole Torben und rufe Ihnen ein Taxi.«
Lisa atmete tief durch und bemühte sich, halbwegs ruhig zu bleiben, was alles andere als einfach war. Der vergangene Abend schwebte wie eine dunkle Wolke über ihr, die Erinnerung daran machte ihr noch immer so sehr zu schaffen, dass ihr die Tränen kamen. Sie konnte den Ausdruck in Kais Augen nicht vergessen, als er sie geschlagen hatte. Dunkel waren sie gewesen, fast schwarz vor Zorn und unbändiger Wut. Sie fragte sich, was mit ihrem Mann los war. Hatte er den Verstand verloren? War er einer jener Irren, die nach außen eine nette und freundliche Maske trugen, um in der Nacht heimlich als Dunkelmänner ihr Unwesen zu treiben? Sie schob diesen Gedanken entsetzt von sich, während sie ins Schlafzimmer eilte, um ihre bereit gestellten Koffer zu holen. Doch so sehr sie sich auch gegen diese Vorstellung wehrte, sie nicht wahr haben wollte, Tatsache blieb, dass mit Kai etwas nicht stimmte. Diese Wut war nicht normal. Sie kam scheinbar aus dem Nichts, ohne Sinn und Grund. Und sie entlud sich in immer schlimmeren Gewaltexzessen.
Elfriede Kramer hatte recht; sie musste dieses Haus so schnell wie möglich verlassen. Alles war besser als das. Und wenn sie in einem Schlafsack an der Isar hätte übernachten müssen …
Wenige Minuten später kam das Taxi.
Die Haushälterin half Lisa dabei, ihre Koffer einzuladen. Torben stand blass und stumm neben dem Wagen und rührte sich nicht.
Erst als seine Mutter davon sprach, dass sie Onkel Mark besuchen würden, kam wieder ein wenig Leben in den Jungen.
»Fahren wir wirklich nach Ulm, Mama? Heute Abend?«
»Wir fahren morgen nach Ulm, jetzt erst mal in ein Hotel. Du wirst sehen, das wird lustig«, versicherte sie ihm mit erzwungener Ruhe. »Steig ein, mein Schatz, wir müssen los.«
»Und ich muss morgen nicht in die Schule? Ich habe ja schon heute gefehlt …«
»Ich habe dir ein paar Tage frei genommen«, schwindelte Lisa.
Nun war Torben zufrieden und kletterte ohne weitere Widerworte auf die Rückbank des Taxis.
»Ich danke Ihnen, Elfriede. Für alles.« Lisa umarmte die Haushälterin mit feuchten Augen, und auch diese weinte leise.
»Geben Sie gut auf sich und den Jungen acht. Alles Gute!«
Schon fuhr das Taxi ab. Auch wenn den beiden so verschiedenen Frauen der Abschied schwer fiel, durften sie ihn doch nicht unnötig in die Länge ziehen. Erst wenn Lisa und Torben vor Kai Wagner in Sicherheit waren, konnten sie alle aufatmen.
Elfriede Kramer kehrte ins Haus zurück und räumte noch ein wenig auf, bevor sie zu Bett ging. Es war noch nicht spät, doch sie brauchte ihren Schlaf. Der nächste Tag würde ganz sicher nicht leicht werden, auch für sie nicht.
*
Die Pension Mecking am Stachus war ein schmalbrüstiges, unauffälliges Haus in einer ebenso unauffälligen Seitenstraße. Lisa hatte sie eher durch Zufall entdeckt und war gleich sicher gewesen, dass sie sich für ihre Flucht eignete. Trotzdem achtete sie darauf, keine direkten Spuren zu hinterlassen. Sie ließ das Taxi zwei Straßen früher anhalten und schleppte ihre Koffer dann selbst zur Pension. Außer Atem und bis aufs Äußerste angespannt erreichte sie ihr Ziel.
Die gepflegte Dame in mittleren Jahren hinter der Rezeption begrüßte sie freundlich. Lisa meldete sich unter ihrem Mädchennamen an. Alles ging glatt. Als der Hausbursche ihre Koffer aufs Zimmer brachte, fragte sie nach ihrem Bruder.
»Herr Hansen hat ein Zimmer vorbestellt«, gab die Dame freundlich Auskunft.
»Er ist noch nicht hier? Ich dachte…«
»Bis jetzt ist er nicht angekommen. Soll ich Ihnen vielleicht Bescheid geben, wenn er eincheckt?«
Lisa bemerkte den leicht ironischen Unterton in ihrer Stimme und fühlte sich bemüßigt, richtig zu stellen: »Herr Hansen ist mein Bruder. Es geht um eine Familienangelegenheit.«
»Ah, verstehe. Möchten Sie morgen geweckt werden?«
»Nicht nötig, vielen Dank.« Sie gab ein großzügiges Trinkgeld und hoffte, sich damit auch das Schweigen der Dame erkauft zu haben. Zumindest so lange, bis Mark sie am nächsten Morgen abholte. Dass er noch nicht angekommen war, beunruhigte Lisa. Sie kannte Mark gut genug, um zu wissen, dass er stets Wort hielt. Er hatte ihr gesagt, dass er an diesem Abend bereits nach München kommen und in der Pension einchecken wolle. Wieso war er noch nicht hier? Sie beschloss, ihn später anzurufen, um zu erfahren, was los war. Vermutlich war er einfach aufgehalten worden, und es gab einen harmlosen Grund dafür.
Torben schaute sich im Zimmer neugierig um und war viel zu munter, um schlafen zu gehen. Lisa brauchte eine Weile, bis sie ihn so weit beruhigt hatte, dass ihm die Augen zufielen. Immerhin war seine Schlafenszeit längst überschritten.
Als der Junge endlich im Bett lag, trat sie kurz auf den Gang, um Mark anzurufen, erreichte aber nur die Mailbox. Sie hinterließ eine Nachricht und kehrte dann gleich ins Zimmer zurück, denn sie wollte kein Aufsehen erregen oder die Aufmerksamkeit eines neugierigen Gastes auf sich lenken, der sich später an sie erinnerte. Denn dass Kai die Pension über kurz oder lang ausfindig machen würde, daran bestand für Lisa nicht der geringste Zweifel …