Der Tod der Schlangenfrau. Ulrike BliefertЧитать онлайн книгу.
keuchte er. »Die tut keiner Seele wat zuleide!«
Der Karton in seinen Händen bewegte sich ohne sein Zutun, was zur Folge hatte, dass keiner es wagte, das Ding in Empfang zu nehmen. Als niemand sich rührte, warf Charlotte Paulus einen kurzen Seitenblick auf den schlafenden Weinfurth, seufzte ergeben und nahm die Lieferung an seiner Stelle in Empfang. »Danke, Emil. Ich denke, du kannst sie in ein, zwei Stunden wieder abholen.«
Auguste hatte den Flechtkorb, aus dem am Abend zuvor Samirahs Schlange emporgekrochen war, unter den Requisiten entdeckt und mit einiger Erleichterung festgestellt, dass er leer war. Jetzt schwante ihr Schreckliches. »Bitte, dürften wir vielleicht erfahren, was unseren Liftboy so aus der Fassung gebracht hat?«
»Nichts Schlimmes. Nur meine Bühnenpartnerin.« Charlotte Paulus nahm den Deckel der Pappschachtel behutsam ab, »Und keine Angst«, sie lächelte in die Runde, »die Gute frisst nur Mäuse und Kaninchen.«
Die Königspython schob den Kopf aus ihrem Gefängnis empor und inspizierte nervös züngelnd ihre neue Umgebung.
Lina Kröschke baute sich mit entschlossen vorgerecktem Kinn vor Auguste auf. »Entweder fünf Mark mehr oder ick bin weg«, fauchte sie, »mitsamt die Klamotten und die Schminke!«
»Na jaaa …«, Auguste zögerte, »eigentlich zahlt ja der Auftraggeber die Mitarbeiter …«
»’n Fünfer mehr, und zwar zack, zack!«
»Fräulein Kröschke, Sie haben vollkommen recht«, mischte sich Henrietta ein, »aber das Beherbergen wilder Tiere steht nicht in unserem Vertrag. Also wenn der Herr Sultan sein Mittagsschläfchen beendet hat, darf er gern für uns alle noch mal ein paar Mark drauflegen, oder?«
Wie aufs Stichwort gab Weinfurth eine Reihe schlaftrunkener Schmatzlaute von sich, öffnete die Augen und rappelte sich auf. »Geht’s weiter?«
»Ja, sofort«, versetzte Auguste. »Allerdings nur mit Gefahrenzulage für alle«, fügte sie nach einem Rippenstoß ihrer Tante hinzu.
Weinfurth ging widerwillig auf die Forderungen ein. Nachdem seine Mitwirkung als Sultan nicht weiter vonnöten war, ließ er sich von Lina Kröschke abschminken und verlangte anschließend – wieder in Zivilkleidung – nach einem bequemen Sessel, um bei den weiteren Aufnahmen Regie zu führen. Als Erstes galt es, eine dramatische Szenenfolge mit dem Titel »Das Geschenk der Rivalin« zu arrangieren.
Während die Runtschen-Schwestern – mit einer Laute und einem Tamburin in den Händen – auf zwei Samtkissen Platz nahmen, wurde Charlotte Paulus umgezogen. Als sie zurückkam, trug sie ein Flamencotuch aus besticktem Musselin um die Hüften und war bis zur Taille lediglich von ihren langen, rötlich braunen Haaren bedeckt. Ndeschio Temba trat – mit rotem Fez und gelbem Burnus farbenprächtig ausstaffiert – mit dem Schlangenkorb auf die drei Frauen zu. Er kniete nieder und wartete mit gesenktem Kopf, bis Weinfurth das Bild zu seiner Zufriedenheit arrangiert hatte. Auguste füllte das Blitzpulver ein und gab Temba das verabredete Zeichen. Der öffnete den Deckel, und die Python erhob sich langsam aus dem Korb. Die beiden Runtschen-Schwestern starrten wie hypnotisiert auf die Schlange – was ausnahmsweise zum Inhalt des Tableaus passte –, und Auguste betätigte Blitz und Auslöser. Als das Magnesium aufflammte, schrie Charlotte Paulus auf, und alle fuhren erschrocken zusammen.
»Liebe Leute, so wird das nichts!« Auguste rang in gespielter Verzweiflung die Hände. »Ihr müsst schon stillhalten, wenn ich …«
Bevor sie weitersprechen konnte, brach die Hölle los.
Hanna und Jenny Runtschen sprangen auf, ließen ihre Instrumente fallen und rannten schreiend ins Nebenzimmer, Weinfurth lief hinterher und brüllte irgendetwas Unverständliches, und die Bühnenarbeiter, die sich infolge Charlotte Paulus’ leichter Bekleidung als Zaungäste eingefunden hatten, machten Anstalten, das Haremstableau zu stürmen. Doch dann hielten sie erschrocken inne: Charlotte Paulus war mitten in der Bewegung erstarrt. Aus ihrem zarten, ohnehin blassen Gesicht war jede Farbe gewichen, und sie starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere. Sie griff an ihren Hals und bewegte ihre Lippen, als versuchte sie, etwas zu sagen. Dann sank sie wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat, zu Boden.
»Nini kimetokea?« Ndeschio Temba sprang hinzu und richtete Charlottes Oberkörper auf, um ihr das Atmen zu erleichtern. »Mpendwa wangu, nini kilikutokea? Tafadhali, lazima upumue! Pumua! Pumua!«
Charlottes Augenlider flackerten, während sie verzweifelt nach Luft rang.
»Ich ruf einen Arzt!« Während Henrietta in Julius Fuchs’ Privatkontor hastete, riss Auguste eine der Samtportieren aus der Aufhängung und hüllte die halb nackte Charlotte Paulus darin ein. »Schnell! Sie braucht was zu trinken!«
Lina Kröschke rannte ins Nebenzimmer. Als sie mit einem Glas Wasser zurückkam, versuchte Ndeschio Temba, Charlotte ein paar Tropfen einzuflößen, doch sie stieß seine Hand beiseite und griff mit hektischen Bewegungen ins Leere. »Sie sind gekommen, mich zu holen«, brachte sie schließlich mühsam hervor. »Roho ya giza ya kifo! Yeye anakuja na ananichukua! Nenda mbali! Ich will nicht sterben!«
Temba stieß einen unterdrückten Klagelaut aus. » Hapana, hakuna roho mbaya! Na vizuka haziwezi kukuumiza! Nipo nawe! Je! Unasikia? Lazima upumue! Tafadhali kaa nami!«
Doch die schöne Schlangenfrau war bereits in einer anderen Welt; einer Welt, in der offenbar Entsetzliches vor sich ging. Sie stieß erstickte Schreie aus und schlug wild um sich, während Ndeschio Temba vergeblich versuchte, sie zu beruhigen.
Schließlich gab sie den Widerstand gegen ihre unsichtbaren Angreifer auf, und Temba wiegte sie in seinen Armen wie ein kleines Kind.
Nebenan warf Henrietta den Hörer auf die Gabel und stürmte zurück ins Atelier. »Doktor Goldstein ist unterwegs!«
»Du Dreckskerl!«, fauchte Lina Kröschke und zerrte Charlotte mithilfe eines der beiden Bühnenarbeiter aus Ndeschio Tembas Armen. »Lass gefälligst deine Pfoten von der Frau!«
Die ältere der beiden Runtschen-Schwestern faltete die Hände und wisperte ein Vaterunser.
Noch bevor der Arzt eintraf, war Charlotte Paulus tot.
KAPITEL 3
Die Sanitäter hatten die Leiche auf eine fahrbare Trage gelegt. Statt der roten Samtportiere hüllte jetzt ein weißes Leintuch Charlotte Paulus’ nackten Körper ein. Während der Arzt seine Instrumente zusammenpackte, murmelte er: »Mein herzliches Beileid«, unschlüssig, wen unter den Anwesenden er ansprechen sollte.
Lina Kröschke und ihr Kollege hatten Weinfurths Darstellerinnen und Darsteller inzwischen abgeschminkt und umgezogen. Einer nach dem anderen kam hinter dem Paravent oder aus dem Nebenraum zurück ins Atelier, doch keiner wagte es zu gehen, solange die Tote noch im Raum war. Ndeschio Temba kauerte, das Gesicht hinter den gekreuzten Armen verborgen, reglos am Boden, während die beiden Runtschen-Schwestern sich in den hintersten Winkel des Ateliers zurückgezogen hatten und mit vor Angst weit aufgerissenen Augen die Suche der Bühnenarbeiter nach der verschwundenen Schlange verfolgten. »Ich hab sie erwischt!«, verkündete einer von ihnen wenig später. Das Tier hing mit zerschmettertem Schädel schlaff über dem Feuerhaken in seiner Hand. Angewidert schleuderte er es Weinfurth vor die Füße. Der nahm den Verlust seiner Schlange ohne erkennbare Gemütsregung hin. »Selbst wenn sie zugebissen hätte«, murmelte er, »selbst wenn …«
Nachdem Auguste und Henrietta alle Anwesenden mit heißem Tee und einem kräftigen Schluck Weinbrand versorgt hatten, wurde es still im Atelier. Nur der übliche, gedämpft von der Friedrichstraße hinaufdringende Lärm war zu hören.
Schließlich räusperte sich der ältere der beiden Sanitäter vernehmlich und brach damit das Schweigen. »Na, denn … Adjee, die