Der Tod der Schlangenfrau. Ulrike BliefertЧитать онлайн книгу.
der wuchtigen, auf schwere, hölzerne Stative montierten Kameras, die Auguste, um Platz zu schaffen, an die Seitenwand des Ateliers geschoben hatte.
»Der ›Apparat da‹ ist eine Stereokamera!« Das klang kein bisschen freundlicher als zuvor, und Auguste rief sich erschrocken zur Ordnung. Der Herr Kriminalassistent war schließlich ausgesprochen höflich, und sie hatte keinerlei Anlass, derart patzig zu reagieren. »Sehen Sie, Herr Weinfurth arrangiert zunächst ganz nach seinen Wünschen ein Tableau, also: ein lebendes Bild«, begann sie, etwas milder gestimmt, zu erklären. »Dann mach ich davon mit unserer Görlitzer hier«, sie deutete auf eine blitzblanke, offenbar nagelneue Atelier-Kamera, »eine Aufnahme, die dann später in der Druckerei mittels Photochromverfahren farbig gedruckt und als Ansichtskarte verkauft wird. Danach geht es weiter mit der Stereokamera – die erkennen Sie an den zwei Objektiven –, und zum Schluss mach ich mit der Anschütz eine Reihe chronologischer Momentaufnahmen.«
»Ach?«
»Ja, für Herrn Weinfurths Mutoskope. Dank des Anschütz-Patents lässt sich nämlich der Schlitzverschluss für Belichtungszeiten bis zu einer tausendstel Sekunde verstellen. Großartig, oder?«
»Zweifellos.«
»Das heißt, damit kann man tatsächlich Bild für Bild ganze Bewegungsabläufe aufnehmen! Und die Einzelbilder werden dann später auf einen Zylinder montiert, der, wie gesagt, in ein Mutoskop eingesetzt wird. Und nach entsprechendem Geldeinwurf wird dann der Zylinder mit einer Handkurbel zum Rotieren gebracht.« Aus Wilhelmis Gesichtsausdruck war nicht zu schließen, ob er ihren Ausführungen folgen konnte, und Auguste schwang sich – einmal in Fahrt gebracht – zu näheren Erläuterungen auf. »Sehen Sie, das ist so: Durch eine lichtabschirmende Öffnung betrachtet – einfacher gesagt: durch ein Guckloch gesehen –, erzeugt das Mutoskop mittels der in schneller Abfolge aufgeblätterten Bilder die Illusion von Bewegung. Im Prinzip so ähnlich wie die laufenden Bilder, die die Brüder Skladanowsky mit ihrem Bioskop erzeugen. Nur benutzen die eine andere Technik.«
»Ich verstehe.« Um Jakob Wilhelmis Lippen spielte ein unergründliches Lächeln. »Und wo haben Sie sich also beim Eintritt des – ja offenbar länger andauernden – Todeskampfs aufgehalten?«
»Ähm …« Auguste wurde rot. Ihr belehrender kleiner Vortrag erwies sich nicht nur als vollkommen überflüssig; er wirkte wahrscheinlich sogar reichlich borniert. Reiß dich zusammen, wies sie sich innerlich zurecht, der Herr Kriminalassistent macht hier schließlich nichts weiter als seine Arbeit! »Also, ich hab hier gestanden«, sie deutete auf die Görlitzer, »und weil es sich um eine der Aufnahmen gehandelt hat, die später als Postkarte Verwendung finden sollen, hab ich das Blitzlicht hier benutzt. Kunstlicht eignet sich dafür deutlich besser als … ähm … Na ja, das tut ja nichts zur Sache.« Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, Wilhelmi mit einem weiteren Fachvortrag zu bombardieren. »Fräulein Paulus hat genau in dem Moment aufgeschrien, als ich das Blitzpulver gezündet habe, insofern hat wohl einen Sekundenbruchteil lang niemand etwas gesehen.«
»Bis auf die Görlitzer.«
»Wie bitte?«
»Na, Ihre Kamera. Oder haben Sie nur den Blitz ausgelöst, ohne eine Aufnahme zu machen?«
»Was?! Ich bin doch nicht meschugge!« Auguste schlug sich angesichts ihrer erneuten Patzigkeit erschrocken auf den Mund. Doch bevor sie sich für ihr undamenhaftes Verhalten entschuldigen konnte, zückte Jakob Wilhelmi seinen Kopierstift. »Wann könnte ich mir denn das entsprechende Bild mal ansehen? Das würde mich schon sehr interessieren.« Gar nicht so dumm, der Kerl, schoss es Auguste durch den Kopf. Gleichzeitig ärgerte es sie maßlos, nicht selber auf den Gedanken gekommen zu sein, dass sie auf diesem letzten Bild womöglich irgendetwas festgehalten hatte, das für den Mordfall – wenn es denn ein Mordfall war – von Belang sein könnte.
»Gustchen?« Tante Hattie kam, den offensichtlich schwer von ihr beeindruckten von Barnstedt im Schlepptau, zu ihnen hinüber und unterbrach Augustes Überlegungen. »Der Herr Kommissar möchte wissen, ob jemand Fräulein Paulus gegen Ende der Pause vielleicht Tee oder Limonade nachgeschenkt hat. Hast du da irgendetwas oder irgendwen …?«
»Nö«, Auguste blies die Backen auf und zuckte mit den Achseln, »und außerdem: Das könnte wirklich jede und jeder gewesen sein bei dem Gewusel hier.«
»Ach ja? Und was ist mit den Negern?«, wandte von Barnstedt ein. »Die dürften ja bei allem … Gewusel … deutlich von den anderen zu unterscheiden gewesen sein!«
»Ja, und? Was soll mit denen sein?«
»Es heißt, die hätten sich Fräulein Paulus gegenüber … auffällig verhalten.«
»Was meinen Sie denn mit ›auffällig‹?«
»Fräulein Kröschke hat gesehen, dass die Verstorbene einen von denen laut schreiend geschlagen hat, als er sie angefasst hat, und sie soll …«
»Wie bitte?«, unterbrach ihn Henrietta empört, »Herr Temba hat versucht, Fräulein Paulus zu helfen! Und sie hat auch nicht nach ihm geschlagen, sondern eindeutig halluziniert und versucht, irgendetwas – oder irgendjemand Unsichtbaren – abzuwehren.«
»Mit Unsichtbarem befassen wir uns hier aber leider nicht, gnädige Frau«, von Barnstedt unterstrich seinen offenbar als Wiedergutmachung gemeinten Einwand mit einem angedeuteten Handkuss. »Wir müssen uns schon an die Tatsachen halten.«
»Schön. Dann tun Sie das«, versetzte Henrietta ungnädig und wandte sich zum Gehen. »Und eine der Tatsachen ist, dass diese Lina Kröschke sich da was zusammenreimt, das so nicht stattgefunden hat!«, setzte sie, für jeden im Raum deutlich hörbar, hinzu.
Von Barnstedt war sichtlich düpiert. »Noch ist ja überhaupt nicht geklärt, ob es sich tatsächlich um einen Tötungsversuch gehandelt hat«, brummte er in seinen Bart und wies seinen Assistenten mit einer Kopfbewegung an zu gehen. »Wenn Sie alles so weit aufgenommen haben …?«
Jakob Wilhelmi nickte und steckte Kladde und Kopierstift ein, oder besser: Er tat so, als wolle er beides in seiner Jackentasche verstauen. Dabei stellte er sich bewusst so ungeschickt an, dass die Kladde zu Boden fiel.
Reflexartig bückte sich Auguste, um das Büchlein aufzuheben, und landete Stirn an Stirn mit dem jungen Herrn Assistenten.
»Schaffen Sie es, bis heut’ Abend das Bild zu entwickeln?«, wisperte er verschwörerisch.
In der Charité schob der Medizinstudent Reginald Wündrich die Bahre mit der Toten, die die Sanitäter vor gut einer Stunde ins Institut für Gerichtsmedizin gebracht hatten, in den Sektionsraum. Gemeinsam mit dem Obduktionsgehilfen bettete er den Leichnam auf den Seziertisch und wartete auf seinen Herrn und Meister. Dass der Herr Direktor persönlich die Autopsie vornehmen würde, war, wie es hieß, auf die ungewöhnlichen Todesumstände zurückzuführen. Darüber hinaus hatte die Tatsache, dass es sich bei dem zuständigen Staatsanwalt um einen ehemaligen Burschenschaftskollegen der »Normannia Leipzig« handelte, die Angelegenheit erheblich beschleunigt.
Reginald Wündrich seufzte. Ihm blieben die Türen solch illustrer Studentenverbindungen unweigerlich verschlossen. Sein Honorar in der Gerichtsmedizin war seine einzige Einkommensquelle, denn niemand in seiner Familie verfügte über Adelstitel, Landbesitz oder militärische Orden und Ehrenzeichen. Aber er war ein findiger Kerl und hatte sich die Roller’sche Kurzschrift angeeignet, die es dem obduzierenden Arzt erlaubte, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen im Plauderton – sozusagen »ins Unreine« – von sich zu geben, während er mit Knochensäge, Skalpell und Rippenschere hantierte. Und so griff Reginald Wündrich eilfertig zu Papier und Bleistift, als Professor Straßmann den Raum betrat.
»Äußere Leichenschau an Charlotte Paulus, Georgenkirchplatz 8, Berlin C 2, geboren am 12. November 1871 in Paderborn«, vermeldete der Obduktionsgehilfe im Kasernenhofton, und Straßmann beugte sich über die Tote. »Gesunde, gut genährte junge Frau«, er hob Arme und Beine an und begutachtete Rücken und Hinterkopf, »keine Narben, keine auffälligen körperlichen Merkmale. Leichte bis mittelschwere Abrasionen und Lazerationen an allen vier Extremitäten.« Als sein Assistent die