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Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard BrunnЧитать онлайн книгу.

Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute - Gerhard Brunn


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      Gerhard Brunn

      Die Europäische Einigung

      Von 1945 bis heute

      Reclam

      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961301-7

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014027-7

       www.reclam.de

      Prolog

      Der 19. September 1946 war ein Festtag für die Stadt Zürich. Zum Ende seines dreiwöchigen Schreib- und Malurlaubs am Genfer See hatte sich der britische Kriegspremier und nunmehrige Oppositionsführer im Unterhaus, Winston Churchill, zu einer »Rede an die akademische Jugend« in der Universität angesagt (Dok. 3). Die Stadt wimmelte von Menschen. Die Schulkinder hatten frei und um die Mittagszeit viele Angestellte von Innenstadtgeschäften ebenso. Manche Geschäftsinhaber hatten ihren Angestellten sogar Lunchpakete mitgegeben. Churchills Fahrt durch die Innenstadt glich einem Triumphzug und zeugte von dem Ansehen, das er bei ungezählten Menschen genoss, für die er in den düsteren Tagen des Krieges Hoffnungsträger gewesen war. Mehrere Reihen tief standen die Menschen an den Straßen, jubelten, schwenkten Fähnchen und überschütteten sein offenes Auto mit Blumen.

      Auf dem Podium der Universitätsaula hatten sich die Fahnenträger der studentischen Vereinigungen in vollem Wichs aufgereiht. Der studentische Gesangsverein sang »Burschen heraus«, und der Rektor hielt seine Begrüßungsansprache. Erstaunliches bekamen anschließend die rund 150 Gäste in der Aula zu hören, unter denen die »akademische Jugend« in der Minderzahl war, da sich Dozenten beider Züricher Hochschulen und Honoratioren vorgedrängt hatten. Aber die Ausgeschlossenen konnten die Rede über Lautsprecher im Auditorium Maximum und im Radio verfolgen, da sie der Sender Beromünster direkt in das In- und Ausland übertrug. Erst sprach Churchill über »Europas Tragödie« und die seiner Bewohner, »die ungeheure Masse zitternder menschlicher Wesen, die gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen starrt und die düsteren Horizonte angestrengt nach dem Auftauchen einer neuen Gefahr, Tyrannei oder neuen Schreckens absucht«.

      Das bedrückende Szenario bildete den Hintergrund der beiden zentralen Botschaften von Churchills Rede, die sie zur Sensation machten und in die Geschichtsbücher brachten:

      1 Die »Europäische (Völker-)Familie« müsse neu geschaffen, eine »Art Vereinigte Staaten von Europa« errichtet werden. Eine derartige Föderation könnte »den verwirrten Völkern dieses unruhigen und mächtigen Kontinents ein erweitertes Heimatgefühl und ein gemeinsames Bürgerrecht« geben.

      2 Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der »Europäischen Familie« müsse »eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland« sein.

      Dies »vorzügliche (sovereign) Heilmittel«, so meinte Churchill, könne die immer noch mögliche Rückkehr des »finsteren Mittelalters mit seiner Grausamkeit und seinem Elend« verhindern, in wenigen Jahren den größten Teil des Kontinents frei und glücklich machen und »Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzen, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen«. Zwar müssten die Schuldigen für die Verheerung Europas und die in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Verbrechen und Massenmorde bestraft werden, nach der Bestrafung aber müsse es einen »segensreichen Akt des Vergessens« geben. Nur so könne Europa vor »endlosem Elend und schließlich vor seinem Untergang bewahrt werden«.

      »Let Europe arise!«, rief er am Schluss seinen Zuhörern zu, von denen manche noch nach Jahren die Erinnerung an ein erhebendes, aber auch verwirrendes Ereignis mit sich trugen: »Die Erzfeinde Frankreich und Deutschland sollten versöhnt den Grundstock für eine europäische Union bilden. Hatte ich richtig verstanden? Kein Gedanke der Rache?« So klang bei einer Zeitzeugin die Überraschung noch nach vierzig Jahren nach, während ein anderer ehemaliger Teilnehmer nüchterner zurückblickte: »Eine zukünftige enge Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland als Kern eines neuen Europa« – »Die meisten der Anwesenden (ich selber mit dabei) nahmen es als einen der typischen Churchillschen Höhenflüge mit geringem Realitätsbezug.« (Neue Züricher Zeitung, 18. September 1996, B 5, B 9.)

      In der Tat schien Churchills kühne Vision unzeitgemäß zu sein und fand im besten Fall eine freundlich zurückhaltende Aufnahme. Im patriotisch bewegten Frankreich reagierten das offizielle Paris und die Presse empört auf den Vorschlag einer Vereinigung (union) Europas unter der »Schirmherrschaft«, wie Le Monde (19. September 1946) schrieb, Frankreichs und Deutschlands. Der Friede in Europa hänge nach dem Ende der Kampfhandlungen nicht mehr von den französisch-deutschen Beziehungen ab, sondern von der Beendigung der Rivalität zwischen der UdSSR auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten und England auf der anderen Seite. Und im Bericht und Kommentar der Illustrated London News (5. Oktober 1946, S. 370) hieß es: Habe Churchill das Wort von den Vereinigten Staaten von Europa mit der Absicht gebraucht, seine Zuhörer sollten sich eine Föderation nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Nordamerika denken, so sei eine solche offensichtlich eine Unmöglichkeit, ein Ziel, das wünschbar oder nicht, auf jeden Fall aber in einem Jahrhundert nicht erreichbar sei.

      Zwei Jahre darauf schien das eben noch Unmögliche doch erreichbar zu werden, und beinahe triumphierend schrieb Randolph S. Churchill, in Zürich sei sein Vater mit dem Thema des Vereinigten Europa der öffentlichen Meinung wieder einmal ein gutes Stück voraus gewesen, aber nun [1948] hätten sich alle nichtkommunistischen Parteien in Westeuropa und den USA sein Anliegen zu eigen gemacht (Collected Works, S. XIII). Drei Jahre später schufen sechs Staaten mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) so etwas wie eine europäische Kernfamilie, die sich entgegengesetzt zu heutigen Familientrends nach und nach zu einer Großfamilie erweiterte und zugleich ihre inneren Bindungen festigte. Mit dieser europäischen Großfamilie, seit dem Vertrag von Maastricht »Europäische Union« (EU) genannt, ist nach einem Prozess von mehr als fünfzig Jahren Dauer ein gemeinsamer Politik-, Wirtschafts- und Rechtsraum Europa entstanden, in dem supranationale oder gemeinschaftliche europäische Institutionen (Europäischer Rat, Ministerrat, Parlament, Kommission, Gerichtshof) für alle Mitgliedsstaaten verbindlich über eine immer größere Zahl politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Angelegenheiten entscheiden. Die einstige Utopie eines Europa, in dem sich die Menschen, von Grenzen kaum behindert, frei bewegen und betätigen können, ist zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts Realität, ja sogar Alltag geworden.

      Zweifellos kann man die Europäische Union »eine ›Art‹ Vereinigter Staaten von Europa« nennen, auch wenn sie sich mit dem Prinzip der Teilintegration deutlich von herkömmlichen Föderationen unterscheidet. Noch ist es den Politologen nicht gelungen, das Neuartige der europäischen Rechtskonstruktion in einem Begriff zu fassen, nicht zuletzt, weil diese Europäische Union ja noch nicht ist, sondern immer noch wird.

      Mit diesem werdenden »Europa« aber verbinden die Unionsbürger kaum noch Hoffnungen auf eine neue, schönere Welt, sondern vielmehr alltägliche Ärgernisse, und »Europa« hat eine schlechte Presse. Zeitungen und Fernsehen zeichnen ein eher hässliches Bild der EU, werfen ihr Unfähigkeit im Konfliktmanagement sowie bürgerferne Regelwut vor und unterstellen ihr die Tendenz, die Selbstbestimmung der Mitgliedsstaaten in der Regelung ihrer Angelegenheiten und Wahrung ihrer Eigenarten zu gefährden. Nur noch eine kleine Minderheit der Deutschen ist für einen gemeinsamen europäischen Staat, die »Vereinigten Staaten von Europa«. Zwei Drittel befürworten eine Rückverlagerung von Entscheidungsbefugnissen zu den Mitgliedsstaaten der Union.

      Trotz des europäischen Missbehagens zweifeln die europäischen Akteure nicht an der historischen Notwendigkeit der Einigung. Eine zumindest in programmatischen Reden allgemein geteilte Begründung kann man in den Erinnerungen Hans-Dietrich Genschers nachlesen: »Die Gründergeneration der Europäischen Gemeinschaft wollte […] auf die Irrwege der


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