Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard BrunnЧитать онлайн книгу.
verfolgt: 1. der wirtschaftlichen und politischen Deregulierung; 2. der engen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit; 3. der Übertragung nationaler Kompetenzen auf supranationale Gemeinschaftsorgane.
Die Deregulierung, auch »negative Integration« genannt, meint den ersatzlosen Abbau zwischenstaatlicher Hemmnisse für den freien zwischenstaatlichen Verkehr von Menschen, Gütern, Kapital und Dienstleistungen und von politischen Kompetenzen ganz allgemein, ohne dass supranationale oder gemeinschaftliche Kompetenzen an ihre Stelle treten. Das ist im Kern die Strategie des Gemeinsamen Marktes.
Zwischenstaatliche Zusammenarbeit heißt in der europäischen Terminologie »Intergouvernementalismus« und bedeutet die formell vereinbarte, regelhafte gemeinschaftliche Behandlung politischer Angelegenheiten, sei es durch Information, Beratung, Abstimmung über Ziele und Mittel, Angleichung von Regeln und Normen bis hin zur Beschlussfassung über gemeinsame politische Aktionen. Für diese Strategie stehen der Europäische Rat bzw. die Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs.
Im Falle der Supranationalität wird die Politik nicht mehr von den Nationalstaaten in nationalstaatlicher Verantwortung entschieden und ausgeführt, sondern von »europäischen«, von Gemeinschaftsorganen. Die vorerst letzte Errungenschaft dieser Strategie sind die Gemeinschaftswährung, der Euro, und die Europäische Zentralbank (EZB).
Die Strategien und die dahinterstehenden Konzepte sind nicht säuberlich voneinander zu trennen, sie durchdringen sich vielfach, aber sie stehen doch für unterschiedliche Optionen der »richtigen Integrationsmethode«, und sie stehen seit Beginn des Integrationsprozesses in ständiger Konkurrenz zueinander.
Europavorstellungen und Einigungspläne bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
Europa, was ist das?
Die Frage nach dem, was »Europa« real ist und was sich die Menschen unter »Europa« vorstellen (Europäische Identität), ist in intellektuellen Zirkeln ein heiß diskutiertes Thema. In der folgenden Darstellung werden unter »Europa« rein pragmatisch jene westlichen Staatengemeinschaften verstanden, die auf Europa Bezug nehmen, also der Europarat bzw. die Europäischen Gemeinschaften in ihren Metamorphosen bis zur heutigen Europäischen Union. Das ist ein nicht sehr eleganter Ausweg aus dem Dilemma, dass sich aus der schier endlosen Zahl von Büchern zum Thema »Europa« für keine historische Epoche eine eindeutige Bestimmung des Begriffs, des Inhalts und der Gestalt gewinnen lässt, sondern nur die Erkenntnis einer verwirrenden, spannungsgeladenen räumlichen, ethnischen, kulturellen und politischen Vielfalt. Der Europa genannte geographische Raum präsentiert sich im Laufe der Jahrhunderte mit fließenden geographischen, kulturellen und politischen Grenzen und dient seit dem Mittelalter als »Container« für eine Vielzahl von fluktuierenden kulturellen und staatlichen Einheiten, die eifersüchtig um ihre Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Freiheit bemüht sind, sich unablässig in Kriege um Macht, Herrschaft, Unabhängigkeit, Religion und anderes mehr verwickelt haben. Es ist deshalb verständlich, dass viele Historiker oder Philosophen »Europa« weniger als materielle Einheit, sondern als kollektive Imagination, als geistiges Konstrukt begreifen, etwas, das gedacht wird.
Seit der Frühen Neuzeit ist es in Kultur und Wissenschaft gängig, Europa trotz seiner heillosen politischen Zerstückelung und zerstörenden »Bruderkriege« als eine vielfach vernetzte, von anderen Kontinenten deutlich unterschiedene kulturelle und geistige Einheit zu denken. Das legten auch »Realitäten«, wie die Heiratspolitik des europäischen Hochadels, die adelige Kavalierstour, die Mobilität und enge (briefliche) Kommunikation der Gelehrten und Künstler oder die großräumige Wanderschaft von Handwerksgesellen nahe. Die »Idee Europa« inspirierte vom Mittelalter bis zur Neuzeit zahlreiche politische Einigungsprojekte. Sie zielten darauf, die Einheit der Christenheit herzustellen, den Hegemoniegelüsten einzelner Monarchen oder Staaten mit ihrem allumfassenden Machtanspruch entgegenzutreten oder ein Regelwerk der friedlichen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zu schaffen, um so der Geißel der nicht enden wollenden Kriege zwischen den Staaten und Völkern Einhalt zu gebieten. Einige Entwürfe, wie der des Herzogs von Sully (1560–1641), des Finanzministers des französischen Königs Heinrichs IV., oder der Immanuel Kants (1724–1804), wirkten noch bei denen nach, die sich nach 1945 in der Europäischen Einigungsbewegung zusammenfanden. Doch diente im konservativen Lager, mit fatalen Anklängen an den NS-Karlskult, auch das erstmals durch die deutsche Romantik idealisierte Reich Karls des Großen als Vorbild für ein vereinigtes christliches Europa, das keine europäischen Bürgerkriege mehr kenne und im Frieden mit sich selbst in der Lage sei, Widerstand gegen Bedrohungen von außen zu leisten und seinen Platz in der Weltpolitik neben den Supermächten zu behaupten.
Alle Einigungsprojekte blieben intellektuelle Luftgebilde. In der realen Politik spielten sie keine Rolle. Im Gegenteil, im 19. Jahrhundert setzte sich in der staatlichen Organisation Europas das Prinzip des Nationalstaats und das Dogma der nationalen Souveränität durch. Jede staatlich verfasste Nation beanspruchte das Recht, ihre inneren Angelegenheiten in völliger Unabhängigkeit von äußeren Einwirkungen zu gestalten und eine auf den Eigennutz, die »nationalen Interessen« ausgerichtete Außenpolitik zu betreiben. Konflikte wurden bewusst in Kauf genommen, und notfalls galt ein Krieg nach dem berühmten Diktum Clausewitz’ als legitime Fortsetzung der nationalen Außenpolitik mit anderen Mitteln.
Erst nach den schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs fand die Idee einer europäischen Einigung einen größeren öffentlichen Widerhall; und erstmals wurden Vereinigungen mit dem Ziel gegründet, in der Öffentlichkeit und Politik für die Idee zu werben, obwohl zur gleichen Zeit der Nationalismus als politische Macht noch an Stärke gewann. Die mit dem Versailler Vertrag ausgehandelte Friedensordnung machte die Idee der nationalen Selbstbestimmung zum leitenden Prinzip der europäischen Neuordnung und stärkte die Widerstände gegen eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Auch der Völkerbund, der ausdrücklich als eine kollektive Instanz zur Wahrung des Friedens und zum gemeinsamen Einschreiten gegen Friedensbrecher gegründet worden war, konnte die Widerstände nicht aufheben. Mit dem Auseinanderfallen der Vielvölkerstaaten Mittel- und Osteuropas war der Kontinent noch fragmentierter geworden und die Neugründung so vieler Nationalstaaten hatte frische nationalistische Energien freigesetzt. Das erklärte Ziel der deutschen Politik, die Friedensordnung von 1919 zu revidieren, brachte ein weiteres Element der Instabilität in den nationalistisch zerstückelten Kontinent. Die auf den Völkerbund gesetzten Hoffnungen als einer Institution der friedlichen Interessenvermittlung schwanden schnell dahin, weil die neuen Staaten so wenig wie die alten bereit waren, irgendeine Verringerung ihrer politischen oder wirtschaftlichen Souveränität hinzunehmen, und sogar neue nationalistische und ethnische Ansprüche gegen Nachbarn auf die Tagesordnung ihrer Politik setzten.
»Paneuropa« – Die zwanziger Jahre
Dennoch fand die Forderung nach einer Einigung des Kontinents einen Widerhall wie nie zuvor. In der Zeit von 1925 bis 1934 erschienen zu dem Thema beinahe 600 Bücher und Zeitschriftenartikel. Mehr als zehn Vereinigungen warben für einen engeren Zusammenschluss der Staaten Europas, doch hat einzig die »Paneuropa-Union« eine dauerhafte Erinnerung hinterlassen. Sie wurde im Jahre 1923 von dem österreichischen Grafen Richard Coudenhove-Kalergi gegründet. Coudenhove-Kalergi und die Mitglieder der nationalen Sektionen warben mit Vortragsveranstaltungen, Kundgebungen, Kongressen und publizistischen Mitteln unermüdlich für einen europäischen Staatenbund. Ihre zentralen Begründungen für eine Einigung des Kontinents behielten auch für die Europabewegung nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Gültigkeit. Erstens könnten nur so die zerstörerischen »Erbfeindschaften« der Länder Europas gebrochen und ein neuer verheerender Weltkrieg verhindert werden. Zweitens könne in einer Zeit weltumspannender Technik und des Aufstiegs der politischen und wirtschaftlichen Supermächte USA und Sowjetunion daneben nur ein vereinigter Kontinent Europa seinen Bürgern Frieden, Freiheit und Wohlstand sichern. Drittens sei nur ein vereinigter Kontinent in der Lage, sich gegenüber der »kommunistischen Bedrohung« zu behaupten.
Die Paneuropa-Union konnte prominente Mitglieder und Förderer aus Politik, Wirtschaft und Kultur gewinnen, aber es gelang ihr nicht, wie Coudenhove-Kalergi eingestehen musste, Einfluss auf die Politik der Regierungen zu gewinnen. Carl von Ossietzki erklärte in der Weltbühne das Scheitern mit der unzeitgemäßen Elitenstrategie Coudenhoves, mit seinem »Kinderglauben«, einer Idee