Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard BrunnЧитать онлайн книгу.
europäischen Einigung Paul-Henri Spaak schreibt, eine »großartige Versammlung« (Spaak, S. 271). Die Parlamente der zehn Mitgliedsstaaten hatten hervorragende Mitglieder nach Straßburg entsandt. Noch nie habe ein Präsident unter seinem Vorsitz so viele bedeutende Politiker und hervorragende Redner vereinigt. Die meisten Delegierten waren Mitglieder der Europäischen Bewegung, und sie waren von der Hoffnung beseelt, den Europarat zu einer supranationalen Vereinigung mit wirklichen Machtbefugnissen ausbauen zu können. Die Europäische Bewegung organisierte zur Unterstützung der Parlamentarier öffentliche Kundgebungen, und diese fanden wie die heißen Debatten der Versammlung ein großes Echo in der europäischen Medienlandschaft.
Die Versammlung ging sofort daran, den ihr gegebenen Kompetenzrahmen nicht nur auszufüllen, sondern auch zu erweitern, die Satzung umzuändern und zu versuchen, dem Europarat die nötigen Mittel zu geben, um zum Schwungrad der europäischen Einigung zu werden. Sie setzte eine ständige Kommission für Allgemeine Angelegenheiten (Politische Kommission) zur Organisation der Arbeiten der Versammlung und als ihren Sprecher gegenüber dem Ministerkomitee ein. Sie versuchte sich vom Gängelband des Ministerkomitees zu lösen und über ihre Tagesordnung und die Beratungsgegenstände autonom zu entscheiden und forderte die Minister auf, auf ihr Vetorecht zu verzichten. Nach offenen Redeschlachten zwischen denjenigen, die sofort einen europäischen Bundesstaat schaffen, und denjenigen, die sich weiterhin auf eine Zusammenarbeit der Regierungen verlassen wollten, verabschiedete die Versammlung den vorsichtig formulierten Beschluss: »Zweck und Ziel des Europarates [ist] die Schaffung einer europäischen, politischen Autorität mit begrenzten Funktionen, aber echten Vollmachten […]« (Europa-Archiv, 20. Oktober 1949, S. 2559). Diese »Autorität« sollte zunächst aus dem weiter einstimmig beschließenden Ministerrat sowie der an der Gesetzgebung beteiligten Versammlung bestehen. Daneben war eine Exekutive vorgesehen. Zusätzlich erhielt der Ständige Ausschuss den Auftrag, die Frage der politischen Autorität zu prüfen und der Versammlung Bericht zu erstatten.
Paul-Henri Spaak verließ Straßburg frohgemut. Er war mit der Überzeugung gekommen, dass die Vereinigten Staaten von Europa eine Notwendigkeit seien, und er ging mit der Sicherheit, dass sie auch erreichbar seien. Er hatte die Widerstände unterschätzt. Das Verhalten der Versammlung hatte Bevins schlimmste Befürchtungen bestätigt, und die Labourregierung sorgte in Verbindung mit den ebenfalls auf ihre volle Souveränität bedachten skandinavischen Ländern dafür, dass das Ministerkomitee im November fast alle Beschlüsse mit einem Veto belegte. Nur den Beschluss zur Ausarbeitung einer europäischen Menschenrechtskommission und die Empfehlung, der Bundesrepublik Deutschland den Beitritt zu ermöglichen, ließen die Minister passieren.
In der Sitzungsperiode des Jahres 1950 brachten die Föderalisten die »politische Autorität« erneut in die Debatten ein und die UEF organisierte Demonstrationen und andere Aktivitäten, um den Forderungen ein zusätzliches Gewicht zu verschaffen. Wieder hatten die Bemühungen keinen Erfolg. Während dieser zweiten Sitzungsperiode musste sich die Versammlung einer unerwarteten Herausforderung stellen. Mit der Verkündung des Schumanplans und der Aufnahme der Verhandlungen zur Gründung der Montanunion sah sie sich der Gefahr ausgesetzt, im europäischen Geschehen an den Rand gedrängt zu werden. Die Föderalisten versuchten, der Gefahr mit einer Art Vorwärtsverteidigung zu begegnen, und meinten, die Führung mit der Übernahme der Strategie des Schumanplans zurückgewinnen zu können. Dem Rat wurden nacheinander Pläne zur Errichtung europäischer, mit dem Europarat verbundener übernationaler Teilinstitutionen auf verschiedenen Gebieten – Landwirtschaft, Verkehr, Energie u. a. m. vorgelegt. Diese Bemühungen endeten mit ihrer Ablehnung durch die Briten und Skandinavier in einer Sackgasse. Als in der dritten Sitzungsperiode erneut keine Fortschritte bei der Weiterentwicklung des Europarats zustande kamen, die »Verwirrung und die Ohnmacht der Versammlung« (Spaak, S. 286) vollends zu Tage trat, als sie sich trotz der Intervention von vier Außenministern nicht zu einer klaren Unterstützung der Pläne für eine Europaarmee (EVG) durchringen konnte, trat Spaak verbittert als Präsident zurück.
Schutz der Menschenrechte
Obwohl es dem Europarat nicht gelang, zum Motor der europäischen Einigung zu werden und er sich selbst auf einen Nebenweg manövrierte, blieb er kein totes und erfolgloses Gebilde. Er schuf ein spezifisches »europäisches Milieu« und hat sich große Verdienste um ein gemeinsames Rechtsverständnis und eine ähnliche Rechtsausübung seiner Mitgliedsstaaten erworben. Er entfaltete auf immer mehr Gebieten vielfältige Aktivitäten zur konkreten Zusammenarbeit, die es erforderlich machten, neben dem Ministerkomitee der Außenminister Fachministerkonferenzen einzurichten. In einem aufwändigen Verfahren erarbeitet der Europarat seit seinem Bestehen Übereinkommen, Konventionen für beinahe alle Politikbereiche, wie Gesundheit, soziale Sicherung, Umwelt, Kultur usw., mit denen sich die Unterzeichner zu gleichartigen rechtlichen Regelungen (z. B. gegen Drogenmissbrauch oder später in der Aidsbekämpfung) verpflichten. Die Konventionen sind nur Empfehlungen und werden erst rechtswirksam, wenn sie von einer festgelegten Zahl von Staaten, die sie unterzeichnet haben, nach den Bestimmungen ihrer Verfassungen ratifiziert worden sind. Die Konventionen – mittlerweile sind es etwa 180 – müssen nicht von allen Staaten übernommen werden, und manche Vorschriften sind nicht bindend. Aber der Europarat hat mit ihnen ein flexibles System der langsamen sektoralen Annäherung und Harmonisierung der Rechtssysteme der europäischen Staaten geschaffen. Wie das Beispiel der »Europäischen Sozialcharta« gezeigt hat, kann von den Konventionen ein erheblicher Druck auf die Rechtsangleichung der Mitgliedsstaaten ausgehen. Nicht zuletzt auch hat der Europarat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die kulturelle Zusammenarbeit, die er mit zahlreichen Aktivitäten, u. a. Europaratsausstellungen, der Wahl der europäischen Kulturhauptstadt oder dem Tag des Denkmalschutzes, fördert. Insofern erfüllt er seinen Auftrag, »Wahrer des gemeinsamen kulturellen Erbes« zu sein.
Durchgängig wirkte der Europarat als europäisches Gewissen bei Achtung, Wahrung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und der Prinzipien der Demokratie. Seine wichtigste Leistung ist bis heute die »Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte« vom 4. November 1950. Sie stellt in der Geschichte des Völkerrechts, wie Carl Carstens schreibt, einen »revolutionären Akt« dar (Carstens, S. 193). Sie garantiert in ihrem Geltungsbereich allen die Menschenrechte und Grundfreiheiten und stellt ein internationales Rechtsschutzsystem zur Verfügung, wenn die Rechte durch einen Mitgliedsstaat verletzt werden. In einem solchen Fall können Mitgliedsstaaten, aber auch in ihren Rechten verletzte Personen die Europäische Kommission für Menschenrechte anrufen, und wenn diese eine Rechtsverletzung feststellt, entscheidet in zweiter Instanz der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die entscheidende Neuerung bestand 1950 darin, dass Einzelpersonen die Kommission und den Gerichtshof auch gegen ihren eigenen Staat anrufen können. Die Konvention und der Gerichtshof setzten Maßstäbe, die weit über den Rahmen des Europarats hinausreichen.
Eine neue, außerordentlich wichtige Funktion erhielt der Europarat nach dem Umbruch in Mittel- und Osteuropa ab 1989. Er wurde zum Hoffnungsträger für die Akteure der Demokratisierung und zum europäischen Anker für die aus der sowjetischen Herrschaft befreiten Staaten, denen er stabile Strukturen und eine Fülle von Hilfen bei ihrem demokratischen und rechtlichen Neuaufbau und -ausbau anbietet.
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS – Montanunion)
Während die westeuropäischen Staaten durch die Umsetzung des Marshallplans erste Lektionen in wirtschaftlicher Zusammenarbeit erhielten, wurde es den entschiedenen Verfechtern eines Vereinigten Europas schmerzlich bewusst, dass weder OEEC noch Europarat zur treibenden Kraft einer vertieften Integration werden würden. Die OEEC zeigte, wie leicht der Wunsch nach Koordination mit nationalen Wünschen in Konflikt kommen konnte. Auch jene Regierungen, die für eine engere Union eintraten, zogen sich doch zurück, wenn eine koordinierte Politik nationale Interessen zu gefährden schien. Zwar handelten alle Regierungen so, aber keine andere rückte so entschieden von dem »Projekt Europa« ab wie die britische. In den ersten Nachkriegsjahren wurde in allen Europamodellen Großbritannien die Führungsposition zugewiesen, und ein Vereinigtes Europa ohne Großbritannien schien undenkbar. Im Jahre 1950 riss Frankreich die Führungsrolle an sich und stellte Großbritannien vor die Wahl, sich zu französischen Bedingungen zu beteiligen oder fernzubleiben. Einen spektakulären Auftakt für den Rollenwechsel lieferte der französische