Kursbuch 204. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
an. Heute finden sich Bioprodukte in jedem Supermarkt, und für die Tierschutzorganisation PETA ist ALDI der »veganfreundlichste Supermarkt«. Warum soll es in fünf, zehn oder 20 Jahren nicht normal sein, invasive Arten zu essen? Es gibt genug davon, auch Pflanzen. Wie den japanischen Staudenknöterich, der sich nicht nur in Berlin, sondern auch im Allgäu viel zu breitmacht. »Die Stängel schmecken gekocht wie Rhabarber«, sagt Bosch, »ideal für Kompott und Chutneys.«
Wenn der Münchner Koch Vincent Fricke durchs Univiertel zu seiner Küche schlendert, kann er sehen, wie sich Foodtrends niederschlagen. Noch immer ist da die Pizzeria Mario, die Max-Emanuel-Brauerei, der Gasthof Atzinger, gleich daneben die Pommesboutique. In den letzten Jahren sind einige Bowl-, Poke-, Smoothie- und Rohkostläden dazugekommen. Zudem eine vegane Eisdiele und ein Bäcker, der hinter einer großen Glasfront von Hand Sauerteiglaibe formt. Das Stück um die sechs Euro, jeden Tag stehen Leute Schlange. Genau wie Rützler sieht Fricke nicht den einen großen Trend auf uns zurollen, »zum Beispiel Burger, und dann entstehen, wie vor paar Jahren, an allen Ecken plötzlich Burgermanufakturen – die Leute haben gesehen, dass die sechste, siebte Version von etwas keinen Sinn mehr macht, die letzten, die eröffnet haben, waren als Erstes wieder zu.« Vielmehr Mikro-Trends, die sich teilweise überlappen und irgendwo angesiedelt sind zwischen »mega abgespact – bald wird sich sicherlich ein Restaurant Insekten hart auf die Fahne schreiben« bis »unfassbar bodenständig«. Wobei Letzteres seiner Meinung nach überwiegen wird. Nicht weil es den Menschen plötzlich um Nachhaltigkeit, Qualität oder transparente Lieferketten geht, sondern weil es »einfach nur Sinn macht, das zu essen, was in der Umgebung wächst und mit handwerklichem Können verarbeitet wird. Man verträgt es zumeist besser.« 9 Außerdem tut es der Seele gut. In Griechenland erlebte die traditionelle Küche nach der Finanzkrise einen wahren Boom, der bis heute anhält. Gerade die Jungen erinnerten sich an Großmutters einfache Küche und wälzten alte Kochbücher.
Im Grunde wäre das eine Chance für seine Zunft. Zwischen Spitzengastronomie und Food to go klafft eine riesige Lücke, die es zu besetzen gilt. Doch gerade mal »18 000 Köche und Köchinnen sind derzeit in Ausbildung, das ist erschreckend wenig«, so Fricke. Der Grund: Die Betriebe schaffen es nicht, Leute zu gewinnen, die wirklich Bock auf Kochen haben, »sondern sich nur für die Lehre entscheiden, weil Maurer noch anstrengender klingt«. Die wenigen, denen es wirklich ernst ist, geben oft vorzeitig auf. Desillusioniert nach monatelangem Bodenschrubben und fertigem Kartoffelsalat aus dem Fünf-Liter-Eimer. Ein Blick in die Hauptstadt gibt Fricke Hoffnung. Dort versucht die Initiative Kantine Zukunft Berlin den Beruf des Kantinenkochs aufzuwerten, indem sie derzeit sieben Küchenbetreiber wieder zum Kochen und Backen bringt – kein Berufsstand wurde vom eigenen Handwerk so entfremdet. Gleichzeitig arbeiten die beiden Start-ups Aitme und DaVinci an Kantinenrobotern, die schon im kommenden Jahr in Büros Pasta und Bowls frisch zubereiten sollen, die Zutaten frei wählbar per App. Auch hier: Bedürfnis (besseres Mittagessen) – Idee – Business.
Der Grund, warum sich die meisten Menschen noch so ernähren, wie sie sich ernähren – zu fett, zu salzig, zu süß, zu viele Fertigprodukte –, liegt für Fricke zum einen an mangelnder Selbstreflexion. Kaum jemand nimmt bei sich selber wahr, welche Wirkung bestimmte Lebensmittel haben. Wie geht es mir nach Currywurst, Burger, einem Liter Zuckerwasser? Zum anderen an der kaum bis nicht vorhandenen Kochkompetenz. Ausgerechnet Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), ließ sich während des Lockdowns zu der Aussage hinreißen: »Der Wegfall des Angebots von Schnellrestaurants, Pommes-Buden und Italiener um die Ecke wirft die Leute dramatisch zurück auf ihre eigenen Kochkünste – und die sind begrenzt.« Eine Fertigpizza könne noch jeder in den Ofen schieben, und Nudeln kochen mit Pastasauce drüber überfordere die meisten auch nicht. »Schon eine Kartoffel zu kochen, ist aber eine Herausforderung.« Zu den Mitgliedern der Vereinigung gehören unter anderem Nestlé, Unilever und Danone – Großmeister in Sachen Convenience und Kundenverführung.10
Bereits seit mehreren Jahren bietet Fricke deswegen Kochkurse für Schulen an – »das Interesse ist da, aber leider oft kein Budget« – und veranstaltet Pop-up-Restaurants. Immer zu einem anderen Trendthema. Was bedeutet eigentlich Plant Based Food? Zero Waste und No Leftovers? Root to Leaf und Nose to Tail? »Wer nicht weiß, dass der Brokkolistiel geschält nach Kohlrabi schmeckt, wird ihn auch weiterhin wegschmeißen. Wer vom Tier noch nie Bäckchen, Schwanz, Zunge oder Innereien zubereitet hat, wird beim Metzger auch weiterhin die teuren Edelstücke Filet, Rücken und Keule kaufen. Oder Hack.« Trends in die Breite tragen, erfordere Transfer.
Auch Foodscout Kägi lässt keine Gelegenheit aus, Leute vom Kochen zu überzeugen. Vor allem von Gemüse.11 Bei einem Testessen hat er die Pouletstreifen aus Erbsenproteinen probiert, die seit Kurzem in den Schweizer Supermärkten liegen. Wie bei Treibhaustomaten ist sein Fazit: Schmeckt nach nichts. Wobei das nicht ganz richtig ist. »Die Masse schmeckt neutral, nicht nach Huhn – wie sollte sie auch –, sondern nach der Gewürzmischung, in die sie getunkt wird.« Das Produkt läuft gut, auch die Presse berichtet positiv, komme einem echten Huhn erstaunlich nahe. »Ich weiß da nie, was ich sagen soll«, so Kägi, »anscheinend vermissen die Leute nichts und mögen den vollen Umami-Geschmack.« Dank Knorr- und Maggie-Würze habe man sie über Jahrzehnte hinweg natürlich auch daran gewöhnt. Prägung von klein auf. Er vermutet, dass er mit seiner Meinung wohl gerade nicht im Trend liege. Und jeder, der zum Veggie-Huhn greift, sei ja auch ein Gewinn. Vor allem, wenn man damit das Fleisch im Döner ersetze – begraben unter viel Sauce und Pul Biber falle der Unterschied vermutlich wirklich nicht auf. Doch er selbst würde aus der Gelberbse lieber gleich eine Suppe kochen. »Eine der besten Suppen von Paul Bocuse war eine Lauch-Kartoffel-Suppe, und der hatte immerhin drei Sterne.« Puristen könnten die Crème fraîche auch weglassen.
Selbst kochen, wissen, was einem bekommt, bedeutet nicht nur, ein Stück weit unabhängig zu sein von Produkten, die einem die Industrie 12, aber auch Newcomer 13 auftischen. Sondern auch, sich nicht kirre machen zu lassen von Foodtrends, die schon mal ins Ungesunde kippen. Zwar geht die Zahl der Übergewichtigen kontinuierlich in die Höhe,14 die der Ernährungsfanatiker aber auch. Laut Nils Binnberg sind eine Million Deutsche süchtig nach gesundem Essen, inzwischen hat die Essstörung sogar einen Namen: Orthorexie. »Mag sein, dass diese Zahl überzogen ist, vielleicht ist sie aber auch weit untertrieben«, so der Journalist, die Grenze zwischen (über)bewusstem, gestörtem und krankhaftem Essverhalten sei unter den Selbstoptimierern nur schwer zu ziehen. Ziel: perfect body, perfect brain, perfect life. Sieben Jahre war Binnberg selbst davon betroffen, zuerst aß er nur bio, dann clean, fühlte sich »besonders gesundheitsbewusst« und »tugendhaft«, wenn er in der Mittagspause eine Quinoa-Tahina-Bowl oder einen Chiasamen-Pudding löffelte.15 Zum Schluss standen nur noch fünf Lebensmittel auf seiner Erlaubt-Liste. Verunsichert und verirrt im Foodtrend-Dschungel – der auch durch Social Media immer dichter wird. »Aktuell findet man unter #food knapp 416 Millionen Einträge auf Instagram. Um aufzufallen, werden Trends auf die Spitze getrieben. Und da man nur Inhalte sieht, die man selbst auswählt, wird man in seinen eigenen Ansichten bestätigt. Der Echokammer-Effekt verstärkt das Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein. Wenn es plötzlich heißt, 25 Tage lang nur reines Wasser trinken, wird man selbst das nicht absurd finden.«
Saward steht auf seinem Acker, 25 Kilometer von seinem Restaurant in der Frankfurter Innenstadt entfernt. Bevor der erste Frost kommt, müssen noch Kartoffeln, Kohl, Topinambur und Knollenziest geerntet und in den Erdkeller gebracht werden. Zudem checkt er noch die Gläser, in denen Vogelkirschen, Erdbeeren und schwarze Haselnüsse lagern. Im Frühjahr und Sommer hat er sie in verschiedenen Reifegraden getrocknet, eingekocht, fermentiert. Sein Restaurant kommt nicht unter die Erde. Natürlich nicht. Die Aktion sollte eine Art Weckruf sein. Innehalten. Nachdenken. Wollen wir wirklich so weitermachen? Uns mit Blick auf Trends vormachen, dass wir ja irgendwie schon auf dem richtigen Weg sind, weil sich in der ein oder anderen Nische bereits etwas tut. Und wenn wir nicht auf den einen Zug aufspringen, können wir immer noch den nächsten nehmen. Den großen Wandel kann Saward (noch) nicht sehen. »Auch wenn Potenzial da ist, coole Ideen und Ansätze – genau wie andere Branchen hält auch die Foodbranche an ihrer alten Denke fest.« Profitabilität. Skalierbarkeit. Marge vor Qualität. Kunden dort abholen, wo sie angeblich stehen, und bloß nicht überfordern. »So wird das nichts – letztlich gibt es nur eins, was zählt: Haltung. Ist es einem ernst? Und hat