Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan WilsonЧитать онлайн книгу.
selbst – die angesprochene „konzertierte Aktion“ – kann bis zu einem ganz bestimmten Spiel zurückverfolgt werden. 1872 wurde auf dem Hamilton Crescent im Glasgower Stadtteil Partick das erste Fußballländerspiel zwischen England und Schottland ausgetragen. Englands Formation umfasste „Tor“ („Goal“), einen „Dreiviertel-Verteidiger“ („Three-quarter back“), einen Läufer („Half-back“), einen sogenannten Fly-kick, vier schlicht als „Mitte“ („Middle“) aufgeführte Spieler, zwei „Linksaußen“ („Left side“) und einen „Rechtsaußen“ („Right side“). Versuchte man dies auf die moderne Schreibweise zu übertragen, ergäbe sich grob ein leicht schiefes 1-2-7. „In der Regel bestand die Aufstellung der Mannschaft aus sieben Stürmern, und nur vier Spieler bildeten die drei Verteidigungslinien“, schrieb Alcock. „Die letzte Linie war natürlich der Torhüter, vor dem sich lediglich ein echter Verteidiger befand, während dieser wiederum nur Stürmer vor sich hatte, abgesehen von zwei Mann, welche den Ansturm der gegnerischen Angreifer aufhalten sollten.“
Das erste offizielle Länderspiel zwischen England und Schottland 1872 in Glasgow.
Die Schotten wurden durch den FC Queen’s Park vertreten, der bis zur Gründung des schottischen Fußballverbandes im Jahr 1873 über das Spiel in Schottland wachte – ähnlich wie der Marylebone Kricket Club (MCC) beim Kricket oder der Royal and Ancient Golf Club of St. Andrews beim Golf. Die Schotten waren im Schnitt über sechs Kilogramm leichter als die Engländer, so dass die meisten Experten aufgrund des Gewichtsvorteils einen deutlichen Sieg für England erwarteten. Das spricht zwar für die Körperbetontheit des noch jungen Fußballs, allerdings regte dieser Umstand in der Realität eher die Kreativität an. Trotz der nur bruchstückhaften Belege kam Richard McBrearty vom Schottischen Fußballmuseum zu dem Schluss, dass Queen’s Park sich sehr wahrscheinlich dafür entschied, den Ball lieber um die Engländer herum zu passen und sich nicht auf direkte Duelle Mann gegen Mann einzulassen. Dabei nämlich hätten sie sehr wahrscheinlich den Kürzeren gezogen. Ihre Aufstellung war fast sicher ein 2-2-6. Die List zahlte sich aus. Mit seinen stärker verankerten Traditionen und einem wesentlich größeren Reservoir an Spielern war England zwar der eindeutige Favorit, musste sich jedoch mit einem torlosen Unentschieden begnügen. Im Spielbericht des Glasgow Herald hieß es dazu: „Die Engländer waren im Vorteil in Hinblick auf das Gewicht, da sie im Durchschnitt circa 14 Kilogramm schwerer waren als die Schotten [eine leichte Übertreibung], und sie hatten auch den Vorteil, schneller zu sein. Die Stärke des Heimvereins lag darin, dass man ganz ausgezeichnet zusammenspielte.“
Dieser Erfolg mag den Glauben an das Kurzpassspiel als die dem Dribbelspiel überlegene Spielart noch bestärkt haben, tatsächlich war das Passspiel in Schottland aber nichts Neues, sondern beinahe von Beginn an Teil des Spiels gewesen. Als der FC Queen’s Park 1867 gegründet wurde, übernahm man jene Version der Abseitsregel, bei der ein Spieler sie nur dann übertrat, wenn er sich vor dem vorletzten Mann und innerhalb der letzten 16 Meter des Feldes befand. Diese Regelsetzung war dem Kurzpassspiel ohne Frage weitaus zuträglicher als die erste Abseitsregel der FA oder ihre 1866 erfolgte Änderung. Wohl erkannte Queen’s Park die Variante mit drei Mann beim Beitritt zur FA am 9. November 1870 an. Zu diesem Zeitpunkt aber war das Konzept des Kurzpassspiels längst fest verwurzelt. In Schottland war der Ball dazu gedacht, geschossen zu werden, anstatt ihn nur zu dribbeln.
Erstes Länderspiel: Schottland – England 0:0, Partick/Glasgow (Schottland), 30. November 1872.
Alcock hatte schon zuvor vier Spiele zwischen England und einer Mannschaft aus in London wohnenden Schotten arrangiert, welche die Vorläufer der „echten“ Länderspiele darstellten. Nach dem ersten dieser Vorläuferspiele ging Robert Smith, ein Mitglied von Queen’s Park und zugleich Schottlands Rechtsaußen im ersten „echten“ Länderspiel, wiederum auf die Verbreitung des Dribbelns ein. In einem Brief an seinen Klub schrieb er: „Wenn der Ball gespielt wurde, so war es üblich, mit dem Ball am Fuß zu laufen oder zu dribbeln, anstatt sich groß mit hohen oder langen Bällen aufzuhalten.“
Zu den Beweggründen des Beitritts von Queen’s Park zum englischen Verband zählte auch die Hoffnung, leichter Gegner zu finden, die sich zu Spielen nach den standardisierten Regeln bereitfanden. Denn in den Monaten vor ihrer Aufnahme in die FA mussten sie Vergleiche mit zehn gegen zehn, 14 gegen 14, 15 gegen 15 und 16 gegen 16 spielen. 1871/72 konnten sie gerade einmal drei Spiele organisieren. „Ungeachtet dessen vernachlässigte der Klub niemals das Training“, schrieb Richard Robinson in seiner 1920 erschienenen Geschichte von Queen’s Park. Isolation und regelmäßige, intern ausgetragene Spiele führten dazu, dass die dem Verein eigenen Besonderheiten immer stärker betont wurden – eine ähnliche Entwicklung wie bei den Argentiniern während der 1930er Jahre. Folglich erfuhr das Kurzpassspiel eine starke Kultivierung, befreit von lästigen Einflüssen durch echte Gegner.
„In diesen [Trainings-]Spielen“, fuhr Robinson fort, „entwickelte sich jenes Dribbeln und Passen …, welches das schottische Spiel zu einer besonderen Kunst erhob. Das Dribbeln war eine Eigenart der englischen Spielweise, und es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis die Leute aus dem Süden kamen und erkannten, dass die Grundlagen der von Queen’s Park angewandten Technik – das Weitergeben des Balles bei starker Deckung – jene waren, welche das meiste aus einer Mannschaft herausholten. Das Kombinieren war die bedeutendste Eigenschaft der Spielweise von Queen’s Park. Diese zentralen Punkte fielen C.W. Alcock ins Auge und stellten das Leitmotiv einer Lobeshymne auf die schottischen Spieler dar, begleitet von den aufrichtigen Plädoyers, in welchen er die schleunigste Übernahme jener Methoden, die das Spiel nördlich des Tweed-Flusses zu einer solcherart hohen Qualität führten, auch durch die englischen Spieler vertrat.“
Tatsächlich jedoch war Alcock keineswegs derart überzeugt. Obwohl er sich vom „Kombinationsspiel“ beeindruckt zeigte – und trotz all jenes Könnens, das er in Sheffield demonstriert hatte –, brachte er im Jahrbuch von 1879 seine Zweifel darüber zum Ausdruck, ob sich „ein Passspiel im großen Stile auszahlen würde“. Offensichtlich hielt er das Kurzpassspiel zwar sehr wohl für eine Option, es hätte jedoch niemals das Dribbelspiel ersetzen dürfen. Dennoch verbreitete es sich insbesondere in Schottland in Windeseile. Dort nämlich war der Einfluss von Queen’s Park geradezu allgegenwärtig und führte schließlich zu jenem stark romantisch verklärten Ansatz, der sich durch kurze, zwischen den Angriffs- und Mittelfeldreihen kreuz und quer gespielte Ballstafetten auszeichnete. Queen’s Park organisierte ferner die schottische Mannschaft für die ersten beiden Länderspiele.
Die Stimme des Klubs behielt im Übrigen auch nach Gründung des schottischen Fußballverbandes großes Gewicht bei der Gestaltung des Spiels. Man betätigte sich als Missionar, reiste durch das Land und führte Schaukämpfe durch. In den Aufzeichnungen eines Spiels gegen Vale of Leven, die später eines der ersten Zugpferde des schottischen Fußballs werden sollten, wird beschrieben, dass das Match zur besseren Erklärung von Regeln und Spielweise regelmäßig unterbrochen wurde. Darüber hinaus markierte ein 1873 in Edinburgh ausgetragener Vergleich den Beginn des Fußballs in der Hauptstadt.
Es ist vielleicht ganz bezeichnend für die Wirkung jener Spiele, dass die Verwaltungsregion der Scottish Borders bis heute eine Hochburg des Rugby geblieben ist. Eines jener missionarischen Matches von Queen’s Park, das dort geplant gewesen war, musste aufgrund eines Einsatzes im FA-Pokal abgesagt werden. Die Saat des Fußballs wurde dort somit nie gesät. McBrearty vertritt die Ansicht, dass die Bevölkerungsverteilung Schottlands mit seinen mehrheitlich in einem Streifen zwischen den Ballungsräumen von Glasgow und Edinburgh lebenden Einwohnern die Durchsetzung einer einzigen Spielweise erheblich erleichterte. In England dagegen hatte jede Region ihre ganz eigene Vorstellung davon, wie Fußball gespielt werden sollte.
Zwar sorgte die Taktik von Queen’s Park im ersten Länderspiel in England noch für Stirnrunzeln, doch bald verbreitete sich das Kurzpassspiel auch im Süden, dank des Einflusses zweier Männer: