Magie. Ines WitkaЧитать онлайн книгу.
Gil ist alles außergewöhnlich. Die Wildlederstiefel, die gemusterten Strümpfe, der Rock, die halbtransparente Bluse, deren Volants an den Ärmeln bis zu den Fingerknöcheln reichen. Die großen Ringe, die sie an beiden Händen trägt. Mit einem drückenden Kloß im Hals erzähle ich ihr von der nächtlichen Begegnung mit Roland. Sie scheint über den glimpflichen Ausgang sehr erleichtert.
»Wie geht’s dir damit?«, fragt sie.
»Das letzte Jahr war so verrückt! Nie, wirklich nie hätte ich gedacht, so weit zu kommen … Erinnerst du dich, wie wenig Bewegung in meinem Spiel war? Ach was! In meinem ganzen Leben! Und nun bin ich aktiv und lebendig.« Ich lache. »Roland scheint auch gemerkt zu haben, dass ich mich verändert habe. Früher hätte ich über seine geschmacklose Anmache albern gekichert.«
Beim Sprechen wird mir klar, dass ich mich nie wieder klein halten lasse, mich nie wieder mit einem Platz im Schatten zufriedengeben will. Ja, ich habe spektakuläre Fortschritte gemacht. Ich habe mir Freiheiten erkämpft, die mir in meinem bisherigen Leben fehlten.
Da sitze ich dieser klugen Frau gegenüber, die ich so sehr begehre. Auf ihrem Gesicht breitet sich das vertraute Lächeln aus. So, als ob sie Bescheid wüsste. Bescheid über meine Gedanken und darüber, wie Erregung in mir aufsteigt, weil ich berauscht bin von ihrem Geruch, von ihrer knabenhaften Figur, von ihren tiefbraunen Augen. In ihrer Nähe ist alles so leicht, so selbstverständlich. Sie wird mich retten, vor mir selbst, vor meiner Vergangenheit. Sie lehrt mich täglich, der Angst ins Gesicht zu sehen, meinen Körper zu spüren, zu vertrauen und zu wachsen.
Unerwartet beugt sie sich vor, greift in mein Haar, zieht meinen Kopf zu sich und küsst mich. Ich bin größer als sie, mache mich klein und rund für diesen Kuss, unter dem mein Körper bebt. Ihre Zunge ist forsch, schiebt sich zwischen meine Zähne. Ich lege meine Hand auf ihren Busen, streichle mit dem Daumen ihre Brustwarze, ertaste ihr Piercing durch den dünnen Stoff ihrer Bluse und spiele sanft damit. Mitsamt ihrem Bürostuhl zieht sie sich näher an mich heran, ohne den Griff in meinem Haar zu lockern. Meine Kopfhaut schmerzt. Ich keuche. Da löst sie sich, schiebt sich langsam wieder weg, streicht ihren Rock glatt.
»Hey, wir müssen rüber. Wir sind die Gastgeberinnen.«
Womit sie leider recht hat. Mein Puls pocht wie wild, so sehr hat Gil mein Verlangen angeregt. Aber ich beherrsche mich, nicke zustimmend und folge ihr aus dem Zimmer.
Gil schließt das Büro ab, und gemeinsam gehen wir den Flur entlang zum Theatercafé, das sonntagabends normalerweise geschlossen ist. Heute jedoch ist es der Veranstaltungsort für die Premiere des Roten Mond Salons.
Roter Mond Salon
Im Theatercafé laden Sofas, Sessel und bunt zusammengetragene Stühle zum Sitzen ein. Gerahmte Plakate, die für vergangene Theateraufführungen werben und von vibrant nerves gestaltet wurden, schmücken einen Teil der weißen Wände. Ein indirekt beleuchtetes Regal aus edlem Holz nimmt eine komplette Wand ein. In den Fächern glitzern edle Spirituosenflaschen und Gläser. Im Hintergrund ertönt ruhige Instrumentalmusik.
Ella und Sophia stellen kleine Schälchen mit salzigen und süßen Knabbereien, Gläser und Wasser auf die Tische. Zusammen sind wir ein schräges Freundinnen-Quartett: Ella tritt seit ihrer Rückkehr aus London, wo sie ein Performing-Art-College besucht hatte, regelmäßig im Liliths Secret Theatre auf. Sie strotzt vor Selbstvertrauen und geballter Weiblichkeit. Sophia ist zart und wird deshalb von vielen unterschätzt. Doch ich habe sie bei verschiedensten Auftritten neugierig und mutig erlebt. Außerdem hat sie einen Lehrstuhl an der Hochschule für Textildesign.
Googelt man Gil, findet man eine Menge Interviews mit ihr, in denen sie sich zur Performance Art äußert. Eine Kunstform in der Frauen Pionierinnen waren. Da Frauen immer wieder über ihren Körper definiert werden, sei es logisch, den Körper und dessen Identität ins Zentrum ihrer Kunst zu stellen, meint Gil. Es sind Interviews dabei, in denen Gil Künstlerinnen, nein, eigentlich alle Frauen dazu auffordert, dem sogenannten männlichen Blick auf Erotik und Sexualität eine eigene Sichtweise entgegenzusetzen. Gil schreibt gegen Sexismus im Allgemeinen und im Besonderen in der Kunst- und Theaterszene an. Man findet im Internet Fotos aus ihrer Studienzeit, auf denen sie berauschend schön ist, auf manchen nackt, auf denen sie sich als Göttin Lilith oder Kali inszeniert, auf denen sie eine Sphinx darstellt, dieses Mischwesen zwischen Mensch und Tier. Der Eros zieht sich wie ein roter Faden durch Gils Selbstporträts und wie eine Ahnung, dass diese Frau gefährlich und mächtig ist.
Die ersten Frauen betreten das Theatercafé. Kurze Zeit später wimmelt es von neugierigen Besucherinnen, und die meisten drängen sich an der großen Theke. Ich schenke Begrüßungssekt und Säfte aus und verweise auf die Namensetiketten. Um Frauen anzusprechen, die sich in einem besonderen Rahmen über weibliche Sexualität austauschen wollen, hatten wir Plakate im Theater, im Dark Light, am schwarzen Brett der Universitäten und in verschiedenen Kultureinrichtungen der Stadt aufgehängt. Nun zeigt sich, dass sich viele unserer Besucherinnen bereits kennen oder schon mal Sophia, Ella oder Gil begegnet sind. Der Salon sollte längst beginnen. Doch überall unterhalten sich die Frauen angeregt in Grüppchen.
Gil wartet zwanzig Minuten, dann steigt sie auf die Minibühne. Sie breitet ihre Arme weit aus und begrüßt alle Anwesenden mit einem charmanten Lächeln. »Guten Abend. Danke, dass ihr alle gekommen seid. Es bedeutet mir viel«, sagt sie und legt eine Hand auf ihre Brust. »Was ich heute mit euch beginnen möchte, ist mir und meinen Freundinnen eine Herzensangelegenheit.«
In ihrer einladenden Geste sind wir drei, Ella, Sophia und ich, eingeschlossen. Wir haben uns neben dem Podium aufgestellt, damit die Frauen wissen, wen sie ansprechen können.
»Gemeinsam mit euch möchte ich einen Forschungsraum eröffnen.« Sie verstummt, und der kurze Moment ihres Schweigens verleiht diesem Angebot eine besondere Bedeutung.
»Vorher möchte ich noch ein paar Vorurteile über den angeblich lustfeindlichen Feminismus zur Seite räumen.« Ihre Stimme ist klar und laut. »Ja, ich weiß. Dieses Wort hört ihr nicht so gerne. Ich hoffe, ihr verschließt jetzt nicht gleich eure Ohren.«
Schützend legt sie die Hände auf ihre eigenen. Ein paar Frauen lachen.
»Man will uns einreden, Feministinnen seien Spaßbremsen und das nur, weil wir klarstellen, dass der Körper der Frau keine Ware und Sexualität keine Währung ist. Sex braucht Einverständnis. Ein Ja, ich bin einverstanden, dass du mich berührst, und das Ja zur sexuellen Handlung an sich. Darum geht es uns.«
Sie hält einen Moment inne, um ihren Worten eine stärkere Wirkung zu verleihen.
»Feministinnen sind keine Spaßbremsen, nur weil sie die gewalttätigen und frauenfeindlichen Darstellungen in Sexvideos, Computerspielen und Werbung satthaben. Klar verdirbt das den Männern den Spaß, die immer noch an die Überlegenheit des Mannes glauben. Das ist allerdings deren Problem.«
In meinem »vorigen« Leben, wie ich die Zeit nenne, bevor ich das erste Mal im Liliths auftrat, kannte ich keine Frau, die Gil auch nur ansatzweise ähnlich war. Ihr zuzuhören ist für mich jedes Mal eine Offenbarung. Ihr zuzusehen, wie sie mit wenigen anmutigen Gesten Glaubenssätze beiseite wischt, ist beflügelnd.
»Immerhin reden wir bereits darüber, was wir nicht möchten. Das ist fantastisch. Doch wir reden immer noch viel zu wenig darüber, was wir mögen. Was geht in eurem Kopf vor, wenn ihr Sex habt? Das ist eine sehr persönliche Frage. Und vielleicht fürchten wir uns, darauf zu antworten. Weil die Antwort nicht in unser Bild von Gleichberechtigung passt? Weil weibliches Begehren verurteilt wird, sobald es nicht der Norm entspricht? Auch von Frauen. Doch wie kann es für Begehren eine Norm geben? Wie wollen wir unsere erotische Vorstellungswelt, die Art unseres Verlangens und unsere Wünsche erweitern, wenn wir nicht darüber sprechen? Deshalb die Frage: Was und wie begehren Frauen? Du, ich, wir?«
Mir wird heiß und kalt zugleich. Da ist sie, die Frage, auf die ich eine Antwort habe, die mir nicht gefällt, und ja, ich will nicht darüber sprechen. Grundsätzlich finde ich es wichtig, jeden Menschen zu achten. Und das tue ich auch. Gewalt lehne ich ab, und dennoch spiele ich mit diesem Kick. Der Fürst ist stark, schön und faszinierend. Er darf mich würgen, er darf mich schlagen, und er darf