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Du bist es vielleicht. Felix ScharlauЧитать онлайн книгу.

Du bist es vielleicht - Felix Scharlau


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machten Lehrer mit einem Plan immer!

      »Ich mach mal einen Kreis und in dem tragen wir die unterschiedlichen Gruppen zusammen.«

      Tripke stellte sich seitlich, den Kopf zum Fenster gewandt, dicht an die Tafel. Den Stift im herunterhängenden Arm atmete er einmal kurz durch und schwang die Hand ohne hinzusehen in einer schnellen Bewegung im Kreis, bis sie unten wieder angekommen war.

      »Also«, wandte sich Tripke zur Klasse, »dann mal los. Wer fällt euch denn so ein?«

      Sie starrten ihn an.

      Die Müden, die Streber, die Dummen, die Skater, die HipHopper, die Reiterinnen, die Handballerinnen, die Nazis, die Muslime, der Zeuge Jehovas, die auf Drogen. Sogar diejenigen, die eben noch Emojis unter dem Tisch durchgeklickt hatten auf der Suche nach dem passenden Montagmorgengesicht.

      Alle blickten ungläubig an Timo Tripke vorbei zur Tafel.

      Levi Eismann in Reihe 3 war der Erste, der etwas sagte. Sieben Wörter. In etwa das, was er bisher im kompletten Halbjahr zustande gebracht hatte.

      »Alter, das ist ja mal der Hammer.«

      Hinter Tripke musste etwas Unerwartetes passiert sein. Panisch drehte er sich um. Erwartete einen Affen mit Messer zwischen den Zähnen oder eine Tarantel an der Tafel.

      Dann staunte er selbst.

      Timo Tripke, nicht gerade berühmt dafür, Dinge außergewöhnlich gut zu können, hatte freihändig einen perfekten Kreis an die Tafel gemalt. Keinen Kreis, der nur symmetrisch aussah. Den perfekten Kreis. Seine Rundung schien völlig gleichmäßig. Die Strichstärke überall gleich ausgeprägt. Und unten war das Ende des Strichs so perfekt auf den Anfang getroffen, dass man nicht mehr erkennen konnte, wo sein Urheber die Kreisfigur begonnen hatte.

      Dass Menschenhand diese Form erzeugt haben könnte, schien unvorstellbar. Das hier war das Werk einer Maschine. Eines hochauflösenden Laserdruckers vielleicht. Wären die Maya auf Bildungsreise in Heiligenstedt, sie würden sich hier und jetzt vor Timo Tripke auf das Linoleum werfen.

      »Noch mal! Noch mal!«

      Wenn Levi, der Mädchenschwarm und Nachwuchs-Punkrocker, so weitermachte, würde er noch zu einem richtigen Plappermaul in diesem Schuljahr.

      »Ja, noch mal! Das schaffen Sie nicht!«, kam es jetzt aus allen Richtungen. Sogar der Nazi hatte von nihilistisch-aggressiv zu kindlich-begeistert zurückschalten können. Ein kleiner Hoffnungsschimmer.

      »Los, Herr Tripke!«

      Tripke stellte sich wortlos an die noch leere linke Tafelhälfte, sah erneut zum Fenster, ließ die Hand mit dem Stift wieder locker hängen und vollführte eine zweite schnelle Handbewegung gegen den Uhrzeigersinn.

      Fertig.

      Einem kurzen Moment ungläubiger Stille folgte tosender Applaus, wie ihn die Schüler sonst nur misogynen Berliner Rappern zuteil werden ließen. Tripke hatte schon wieder einen perfekten Kreis gemalt.

      »Wie ich immer sage – Hauptsache stabiler Kreislauf«, rief er, als der Lärm sich ein wenig gelegt hatte.

      Der Gag saß. Die Schüler lachten. Einige klatschten wieder freudig. Der Rest der Stunde verschwand in wohligem Nichts.

      Auf der Heimfahrt nach Holden drehte Timo Tripke die Depeche-Mode-CD auf und sang laut mit. Einen besseren Montag am Riesenhuber hatte es nie gegeben. Er hatte für Gesprächsstoff gesorgt, positiv wohlgemerkt, und das gefiel ihm.

      Zu Hause angekommen hefteten sich seine Gedanken sofort an das Hefeweizenbier im Kühlschrank. Dabei war erst halb fünf. Nein, definitiv noch zu früh.

      Stattdessen ging er ins Wohnzimmer. Genauer: zur Biedermeier-Kommode von Bernadettes Großmutter. Die Schublade ruckelte laut, als er sie öffnete und die leicht vergilbte Schachtel französischer Zigaretten entnahm.

      Bald stand Timo Tripke, der lebende Zirkel, die Lehrkraft mit dem goldenen Handgelenk, das Gesprächsthema Nummer eins am Riesenhuber, auf dem ungenutzten Rasenstück hinter seinem Haus und rauchte zufrieden.

      Nein, dachte er, heute war definitiv kein Tag wie jeder andere.

      Wäre es so gewesen, hätte er beim Hineinkommen bemerkt, dass in der rechten Garderobenhälfte keine Jacken mehr hingen.

      

      Der kleine Timo stand schwankend auf einem Bein. Das andere hielt er fest umklammert in Hüfthöhe. Blut tropfte wie beiläufig von seinem Fußballen auf die Holzbohlen.

      »Was is?«, kam es besorgt von hinten.

      Ben stand jetzt dicht bei ihm. Er war außer Atem, er schwitzte, wirkte zwar resteuphorisch, nun aber auch höchst besorgt. Wie alle kleinen Kinder, die noch nicht zwischen Schürfwunde und Genickbruch unterscheiden können.

      »Nicht schlimm, Ben, keine Angst. Aber ich brauch’n Pflaster oder so. Hol mal Opa.«

      »Opa, Opa!«

      Ben sprintete zurück zum Heck, um das sie eben minutenlang gejagt waren. Unzählige Runden hatten sie kreischend auf Deck gedreht. Die Backbord-Reling entlang, vorne die zwei Stufen beim Anker hoch und auf der anderen Seite wieder zwei Stufen runter. An der Steuerbordseite des Hausbootes zurück und hinten beim Ruderhaus haarscharf an Opa und seinem Farbeimer vorbei. Eine Hatz wie in einem Tom-&-Jerry-Cartoon. Nur dass der Farbeimer noch nicht umgekippt war.

      Timo hatte beim Rennen darauf geachtet, Ben immer den perfekten Vorsprung zu lassen. Der Abstand musste groß genug bleiben, dass Ben sich für schneller halten konnte. Gleichzeitig musste sein kleiner Bruder im unablässigen Zustand der Hysterie gehalten werden. Nie durfte er das Gefühl bekommen, Timo würde ihn absichtlich gewinnen lassen. Obwohl es der Fall war. Für Timo bedeutete das Spiel ziemlich viel Arbeit. Aber er konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

      Außer, endlich etwas gegen die verdammte Blutung zu bekommen.

      Ben erschien mit Walter Tripke an der Hand, der den Erste-Hilfe-Koffer in die verbliebene Achselhöhle geklemmt hatte. Leichter wäre gewesen, Opa Tripke hätte Bens Hand losgelassen und den Koffer am Handgriff gehalten. Aber so war er eben, fürsorglich. Und darauf bedacht, die für jeden offensichtliche körperliche Einschränkung als völlig problemlos darzustellen, sie mitunter gar als Vorteil anzupreisen.

      Vor kurzem erst war Timo Ohrenzeuge eines längeren Plädoyers geworden, wonach der Mensch laut Opa Tripke »im Prinzip« gar keine zwei Arme bräuchte. Doppelglieder? Dabei handelte es sich, so Walter Tripke, ganz klar um einen »Arawismus«. Falls Timo das Wort richtig verstanden hatte. Ein Bein weniger, okay, das war in manchen Lebenssituationen wirklich ärgerlich, dozierte Tripke senior. Aber nur ein Arm? Jeder konnte doch sehen, wie gut es ihm ging. Vögel zum Beispiel bräuchten auch keine Arme. Und die Schlangen erst!

      Timo hörte zu und stellte sich vor, wie es wäre, mit einem Arm Fahrrad zu fahren, eine Konservendose zu öffnen oder bei einer Schulaufführung neben allen Kindern, die zwei Hände hatten, zu versuchen, mit nur einer zu klatschen.

      Er war sehr glücklich über seinen zweiten Arm. Aber er sagte es nicht. Stattdessen tat er auch diesmal so, als habe er die Heldengeschichten über den amerikanischen Entdeckungsreisenden John Wesley Powell nicht schon ein halbes Dutzend Mal gehört.

      Wie, Opa hatte Powell, den einarmigen Helden des Wilden Westens, noch nie erwähnt?

      Den glorreichen Erforscher und Namensgeber des Grand Canyon?

      Das Gründungsmitglied der National Geographic Society?

      Der Mann, dessen Namen sowohl Lake Powell als auch Mount Powell in der Antarktis trugen?

      Das konnte doch nicht sein.

      Als Walter Tripke den Arztkoffer endlich aufgekriegt hatte und den Fuß untersuchte, sah Timo aus nächster Nähe die Schweißperlen auf der Stirn seines Großvaters. Er roch Terpentin, filterlose


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