Du bist es vielleicht. Felix ScharlauЧитать онлайн книгу.
Tripke senior mehr in Richtung Ben, der stocksteif von unten der Untersuchung folgte.
»Hältst du die Fußsohle bitte mal selbst nach oben, Timo? Sonst komm ich da nicht ran. Genau … jetzt noch den Kopf weiter nach links, sonst habe ich keine Sonne … genau … so, das war’s schon. Pflaster drauf und fertig. Blutet gleich nicht mehr.«
»Juhu!«, rief Ben ernsthaft überrascht. Dann rannte er in freudiger Erwartung schon wieder zum Bug.
Timo trat vorsichtig auf und wartete auf den pochenden Schmerz. Doch er spürte nur die Erinnerung daran.
Opas Kofferradio im Führerhaus quäkte das Lied für den Frieden. Timo lauschte. Der Frieden auf der einen Seite, Singvögel auf der anderen. Das Platschen des Wassers, das Gepolter von Ben. Einen Moment drehte er den Kopf zur Sonne und schloss die Augen.
»Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, und höre die Schreie der Vögel im Wind«, sang die Radio-Frau übersteuert, und Timo lachte wegen soviel Zufall.
»Was ist?«, schrie Ben von der anderen Seite des Schiffs, Luftlinie ein paar Meter von ihm entfernt.
»Nichts, Ben, nichts.«
Aber da war doch etwas. Ein Knirschen. Eine dunkelblaue Limousine mit einer großen Beule im Kotflügel rollte über den Kiesweg heran. Am Uferrand quietschte sie abrupt. Es hupte hektisch und ein hochgeschossener Mann Anfang 30 stieg aus.
Opa, der seinen Arztkoffer unter Deck in der dafür vorgesehenen Halterung verstaute, streckte Achtern den Kopf wie ein Erdmännchen aus einer Luke. Mit unbewegter Miene sah er den Neuankömmling die Gangway in großen Schritten nehmen.
»Walter? WALTER!«, rief der Große.
»Hier bin ich doch«, kam es von unten.
»Haben die Jungs schon gepackt, alter Mann?«
»Sag ihnen doch erst mal Hallo.«
Ben lief zu seinem Vater und klammerte sich an sein Bein.
»Fahren wir schon?«, befragte er die Wolken.
»Ja, hol deine Sachen.«
Der Riese streichelte Bens Kopf.
»Darf Timo denn mal vorne sitzen?«, wollte Ben wissen.
»Vorne sitzt Team Dettmering. Weißte doch.«
»Wie kannst du nur so was sagen, Udo?«, zischte Walter Tripke, der mittlerweile mit einem Einmachglas in der Hand an Deck erschienen war. »Das ist doch krank.«
»Gutes Stichwort. Wir müssen uns beeilen, die Besuchszeit endet um sechs. Komm Ben, hol deinen Rucksack und du, Timo, du bitte auch. Dann lasse ich dich auf der Rückfahrt auch vorne sitzen, ja?«
Ben und Timo stoben unter Deck.
»Soll ich deiner Tochter was von dir ausrichten, alter Mann?«
»Sag ihr, ich nehme Dienstag nach dem Frühstück wieder den Bus. Hier. Himbeer mochte sie immer gerne. Frisch eingekocht. Und reiß dich zusammen, den Kindern zuliebe.«
»Wie oft denn noch, da dürfen keine Gläser rein.«
»Dann bitte eine Schwester, die Marmelade umzufüllen. Ist ja wohl nicht zu viel verlangt.«
Udo Dettmering erwiderte nichts, machte aber den Eindruck, als sei es definitiv zu viel verlangt. Er zündete eine Zigarette an und schwieg. Als Ben und Timo mit ihren Taschen erschienen, gab Walter Tripke Timo das Marmeladenglas.
»Gib das bitte der Schwester zum Umfüllen und drück deine Mami von mir, ja?«
»Klar, Opa.«
»Und sag ihr, ich komme Dienstag nach dem Frühstück.«
»Okay, Opa. Mach’s gut, Opa. Bis Samstag.«
»Ach, ganz vergessen …«, rief Udo. »Kann sein, dass die beiden Samstagfrüh wieder ein Werbe-Shooting haben.«
»Dann eben Samstagmittag«, rief Opa Tripke und wandte sich wieder Timo zu. »Ich wünsche dir eine schöne Woche, Timo. Viel Spaß in der Schule.«
So wie alle Großeltern hielt Walter Tripke erst Timo, dann Ben viel zu lange im Arm. Vielleicht sogar noch länger, weil er nur einen hatte. Mit dem winkte er auch, als beide Kinder hinter dem Riesen zum Auto liefen.
Ben stieg vorne ein. Timo warf seinen Rucksack auf die Rückbank und Opa auf dem Hausboot einen letzten Blick zu. Der hob nun wieder die Hand und formte in Timos Richtung einen nach oben gereckten Daumen. Timo nickte, stieg seinem Rucksack hinterher und nahm auf den heißen Kunstledersitzen Platz.
»Abfahrt«, presste Udo Dettmering den Tabakrauch aus dem halb geöffneten Fenster. Er drückte den Zigarettenstummel fest in den Aschenbecher der Mittelkonsole, bis seine Fingerknöchel weiß anliefen. Dann fuhr der Zündschlüssel endlich ins Schloss.
Die Frau aus dem Radio sang ihr Lied in Timos Kopf weiter. Morgen, nach der Schule würde er bei Funk Müller fragen, was die Schallplatte mit dem Song kostete. Vielleicht reichte sein Geld.
»Wie eine Puppe, die keiner mehr mag, fühl ich mich an manchem Tag.«
Witzig. Er konnte den Text doch tatsächlich schon auswendig.
Christiane Seiffert, vielleicht auch Christine, Timo Tripke wusste es nicht mehr genau, löste den Verschluss ihres dezent geblümten BHs. Endlich nahm sie ihn ab und warf ihn auf den Plüschsessel neben ihrem Nachttisch. Nur noch mit ihrer Unterhose bekleidet stand sie neben dem Bett.
Timo betrachtete sie schweigend, äußerlich unberührt. In Wahrheit speicherte er hektisch Standbilder ihres Körpers auf seiner internen Festplatte. Vorräte sammeln.
Christiane-Christine verharrte. Mit ihren Gedanken schien sie ganz woanders zu sein. Vielleicht bei der Arbeit. Oder einem kranken Verwandten. Oder ihrer Einsamkeit, falls sie einsam war, Tripke wusste es nicht. Klar war nur, sie hatte auf irgendetwas keine Lust mehr.
Timo Tripke ging es ähnlich. Auch er hatte keine Lust mehr. Es war Freitag. Der fünfte Tag in Folge, dass er Christiane-Christine Seiffert, in der Tiefe von Bernadettes ehemaligem Arbeitszimmer stehend, durch Opas Fernglas beim abendlichen Entkleiden beobachtete.
Bei der Premiere am Montag hatte er dabei noch immense, beinahe jugendliche Lust verspürt. Wer wusste schon, wie viele Chancen er noch bekam, etwas Aufregendes zu empfinden? Mit 43 kippte die Wippe allmählich auf die andere Seite. Unaufhaltsam taumelte man dann nach unten in Richtung Friedhof.
Und doch hatte sich bereits vorgestern, am Mittwoch, das abendliche Warten auf Christiane-Christine in eine leicht ärgerliche sexuelle Sucht ohne große Erfüllung ausgewachsen. Heute lag sogar null echte Erregung mehr in der Luft.
Im Prinzip spannte er Christiane-Christine nur noch ins Schlafzimmer, weil er es konnte.
Das Haus in Holden gehörte ihm. Zeit und Gelegenheit waren seine einzigen Mitbewohner. Aber er musste nicht lange zurückdenken, um sich an weitaus schlechtere Wohnpartner zu erinnern.
An Christiane-Christines erstaunlichen Körper lag es nicht, dass ihm die Show nicht mehr gefiel. Ihre Figur war keineswegs makellos. Aber genau das hatte Tripke jenseits der stumpfen, pulsierenden Lust an Christiane-Christine direkt berührt. Sie schien so wahnsinnig real. So unverstellt schön.
Tripke misstraute Perfektion ganz grundsätzlich. Perfekt, das waren immer nur die anderen. Und was immer nur die anderen hatten, hatte in Wahrheit keiner. Störte sich niemand außer ihm an diesem logischen Widerspruch?
Timo Tripke war froh, sich nie für das Perfektsein interessiert zu haben. Auch, weil ihm das die unmögliche Aufgabe abnahm, sein alles andere als perfektes Äußeres mit den Ansprüchen der Welt synchronisieren zu müssen.
Moment mal, was war los da drüben? Warum ging es nicht