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Du bist es vielleicht. Felix ScharlauЧитать онлайн книгу.

Du bist es vielleicht - Felix Scharlau


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Tripke starrte auf das vergilbte Poster vom »Haus der Geschichte«, das von außen daran klebte. Um ihn herum und in ihm drin nur Gewitter.

      Dann nahm er eine Bewegung links von sich wahr. Eine Silhouette schob sich aus dem Dämmerlicht des Korridors und auf ihn zu.

      Timo Tripke sagte keinen Ton. Schulleiter Steiner auch nicht.

      

      Timos Kopf pulsierte. Er öffnete die Augen. Doch er musste sie sofort wieder schließen. Die Studioscheinwerfer waren viel zu hell eingestellt. Wenn er das Geschrei richtig verstand, klemmte irgendein Regler. Neben ihm räusperte sich sein kleiner Bruder Ben, auch ihm schien die Situation zuzusetzen.

      Der kleine Timo lauschte weiter den Kommandos, die wie Pfeile von allen Seiten gegen seinen Kopf schossen, und versuchte, das fiebrige Bibbern zu unterdrücken. Speiseeis lief ihm über die Hand und tropfte auf den Boden der kleinen Halle.

      Früh am Morgen war er mit rasenden Kopfschmerzen aufgewacht. Schon gestern, in Sport, hatte er geahnt, dass etwas nicht stimmte. Ihm war kalt gewesen, er hatte sich schlapper gefühlt als sonst. Und jetzt hatten sich Kopfschmerzen und Fieber dazugesellt. Wie gerne würde er im Bett liegen, Tee trinken und Hörspiele hören. Doch es half nichts. Bens Papa hatte den »Deal«, wie er es nannte, nun mal von langer Hand eingefädelt. Absagen ging nicht, sonst waren sie für immer raus bei diesem »Kunden«.

      Also hatte Timo eine Aspirin zu den Marmeladentoasts bekommen und war danach mit in die dunkelblaue Limousine gestiegen. Die Fahrt ins Industriegebiet am Stadtrand von Heiligenstedt hatte vielleicht 15 Minuten gedauert, das Suchen noch mal zehn. Udo hatte die Adresse nicht gefunden, sie kamen zu spät. Längst befand sich Udo in der Art genervten Verfassung, in der ihn nicht mal Ben noch ansprechen konnte, ohne beschimpft zu werden.

      Und jetzt, jetzt spielte auch noch die Studiotechnik verrückt. Es dauerte fast noch eine Minute, bis Timo durch die geschlossenen Augenlider sah, dass jemand es geschafft hatte, die riesigen Scheinwerfer herunterzudimmen. Eine Wolke hatte sich vor die gleißende Sonne geschoben.

      Timo öffnete die Augen und sah auf sein Eis hinab. Auf dem Boden hatte sich schon eine kleine Pfütze gebildet. Bei Ben, der neben ihm vor der Karibik-Fotowand mit dem Schriftzug eines Eisherstellers stand, war es nicht anders. Auch er trug kurze Hose, T-Shirt, Schirmmütze und Sandalen.

      »Heike! Wischen, Herrgott! Und gib ihnen ein neues Eis! Geht jetzt sofort los!«, schrie der dicke Mann mit dem übertrieben langen Schal und dem Vollbart. Seit Minuten brüllte er andere Mitarbeiter an. Offenbar war er der Chef hier.

      Die nette Heike, die bisher als einzige mit Timo und Ben geredet hatte, kam mit Tüte und Putzeimer. Sie nahm das Eis ab, wischte ihnen in Windeseile die Hände mit einem feuchten Tuch sauber und die Kleckse vom Boden. Dann verschwand sie im Schatten und kam mit zwei neuen Speise-Eis aus der Kühltruhe wieder.

      Hastig löste die nette Heike das Papier ab und drückte ihnen das Eis in die Hand. Als sie wieder im Schatten der Scheinwerfer verschwand, glaubte Timo kurz zu sehen, wie Udo Heike an der Hüfte berührte. Offenbar mochte er sie auch.

      Jetzt erschien ein bebrillter, ernst schauender, seltsam dürrer Typ mit einer Art Taschenuhr und guckte angestrengt. Er hielt sie Ben und Timo vors Gesicht und las davon Zahlen ab, die er dem Dicken zurief. Der schien zufrieden mit dem, was er hörte.

      »Okay! Los!«, rief er. »Das heißt … Moment! Ich will, dass der Kleine das große Eis nimmt, und der Große das kleine! Für mehr Kontrast!«

      Timo sah zu Ben, der zu ihm und sie tauschten schweigend das Eis. Timo gab Ben Erdbeer-Vanille in der Waffel und bekam dafür das braune mit Cola-Geschmack.

      »So! Und jetzt lächelt mal! Ich weiß, wir haben November, aber stellt euch mal vor, ihr wärt mit Mama und Papa in den Sommerferien an der Adria und hättet euch schon den ganzen Tag auf dieses schöne Eis gefreut! Mhhh, lecker! Genau! Und los! Los! Zeigt mir was! Spielt mit der Kamera!«

      Sofort begann irgendwo im Halbdunkel ein Fotoapparat nervös klackernd auszulösen. Timo starrte eisern grinsend nach vorne ins Licht und warf sich in Pose. Er gab sich Mühe, trotz der Scheinwerferhitze von außen und dem Frösteln von innen den Ansagen des Dicken zu folgen. Doch es fiel ihm schwer, sich einen Familienurlaub an der Adria vorzustellen.

      Seine Mama war seit sieben Monaten in einer Klinik, weil sie böse Gefühle hatte. Ende nicht in Sicht. Sie besuchten sie meist sonntags mit Udo. Manchmal auch noch samstags alleine nur mit Opa. Und Papa, der konnte auch nicht an die Adria fahren. Denn der lebte nicht mehr. Als Timo drei war, hatte sein Papa einen Unfall gehabt und war jetzt im Himmel. Aber das konnte der Dicke ja nicht wissen.

      In den Urlaub fuhren er, seine Mama, Ben und dessen Vater Udo nicht so oft. Das letzte Mal waren sie in Holland an der See, das war schön gewesen. Aber viel zu kalt für Eis. Pommes hatten sie da gegessen. Mit Saucen. Sie hatten versucht, Möwen mit einer Frisbee zu treffen. Und Burgen gebaut. Das war ein Spaß gewesen. Timo hatte in dem Urlaub das erste Mal gedacht, dass Ben ein richtiger Bruder für ihn werden könnte. Aber jeder Urlaub ging mal zu Ende.

      »Stopp, stopp! Was ist denn mit dem einen … wie heißt du? Tim …«

      »… Timo«, rief die nette Heike von links.

      »Timo, genau. Sag mal, geht’s dir nicht gut? Du kommst nicht rüber auf den Fotos. Also deine Aura fehlt, weißt du, was das ist? Dein Bruder macht das so toll. Aber bei dir sehe ich keinen Zauber. Magst du denn kein Eis?«

      Jetzt erschien Udo aus dem Nichts und lief zu Timo.

      »Das wird gleich, keine Sorge, Herr Kaiser … Komm, Timo, wir sind bald fertig. Dann geht’s zu Opa. Aber vorher machen wir hier noch ein paar schöne Fotos, ja?«, raunte er Timo zu.

      »Okay«, sagte Timo und konzentrierte sich noch mehr darauf, fröhlich zu tun, obwohl er zunächst nicht wusste, wie das gehen sollte.

      Doch dann dachte er an einen anderen Urlaub. In einem anderen Land, mit einer anderen Familie. Eine, in der nicht alles so komisch war. Ohne Udo. Und ohne jeden zweiten Samstag in einem Werbestudio stillhalten müssen, nur weil man ein so süßes Kind war und der Stiefvater Geld brauchte. Ein Urlaub nur mit Mama, der es wieder gut ging. Und mit Opa. Und Ben.

      So ging es. Sehr gut.

      »Ja, so geht es! Sehr gut!«

      Der Dicke war zufrieden und knipste Foto um Foto. Über eine Stunde schossen sie weiter. Dabei versprach der Dicke ständig, dass jeden Moment das letzte Bild käme. Aber er log jedes Mal.

      Die Session ging so lange, bis Ben, der an Timos Seite alles unwidersprochen erduldet hatte, bewusstlos umkippte.

      Auf der zwanzigminütigen Fahrt von Heiligenstedt zu Opas Hausboot war es still im Wagen. Timo schlief auf dem Rücksitz ein.

      

      Wenn es in dem Tempo weiterging, waren die Augen von Akazienweg 9 bald alle geschlossen. Seit Timo Tripke begonnen hatte, sich in Holden einzuigeln, fuhren alle paar Stunden weitere Jalousien und Rollläden nach unten.

      Mehrfach hatte seit vorgestern das Telefon geklingelt. Zweimal war es die Nummer von Steiners Vorzimmer gewesen. Tripke war nicht drangegangen. Noch fühlte er sich außer Stande, sich zu dem zu verhalten, was mit Levi geschehen war. Er wusste, die Situation würde sich nicht von selbst aus der Welt schaffen. Vermutlich würde es aber auch mit seinem Zutun nicht geschehen.

      Er hatte einen Schüler geschlagen. Und als sei das nicht unverrückbar, klischeehaft und dämlich genug, es wurde nicht erträglicher, nur weil er sich völlig im Recht fühlte.

      Es gab Regeln. Allen Schülern bekannt. Ob sie deren Folgen absehen konnten oder nicht, war völlig egal. Die Tatsache, dass sie galten, musste reichen. Jeder hatte sich


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