Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.
presste die Lippen aufeinander. Sie hatte sich früher schon einmal hereinlegen lassen. Aber diese Frau hatte nicht vor, so schnell aufzugeben. »Wie alt bist du?« Die Frage hatte etwas Bedrohliches, aber sie konnte nicht mehr so tun, als verstünde sie kein Wort. Pater Brody antwortete für sie. »Sie sagt, sie sei sechzehn.«
Die Frau sah – falls überhaupt möglich – noch besorgter aus. Trotzdem lächelte sie breit. Davon lief es Hirka kalt den Rücken hinunter. »Deine Eltern, Hirka. Wo sind sie?«
Endlich konnte Hirka ehrlich sein. »Ich dachte, sie wären hier.«
Das ermutigte Trudy. »Haben deine Mutter und dein Vater gesagt, dass sie hier wären?« Hirka schüttelte den Kopf.
»Wie heißen sie?«
»Ich weiß nicht.«
Trudy seufzte und stand auf. »Kann ich mit Ihnen unter vier Augen sprechen, Pater? Ich weiß nicht, was ihr zugestoßen ist, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass es zu einer Art Trauma geführt hat.« Sie gingen den Mittelgang entlang, während sie sich miteinander unterhielten. Hirka saß unbeweglich da und lauschte den Stimmen, die sich in den Neubau entfernten. Sie hörte, wie die Tür hinter ihnen zuschlug, und stand auf. Lief zur Turmtür. Sie nahm drei Stufen auf einmal bis ganz nach oben ins Turmzimmer. Sie schaute sich fieberhaft um nach etwas, womit sie die Treppe versperren konnte, aber das war ein dummer Gedanke, natürlich. Sie lehnte sich an die Wand.
Alles war vorbei. Sie war hergekommen, weil sie glaubte, sie gehöre hierher. Weil sie ein Mensch war. Eine von ihnen. Aber hier war es genauso wie in Ymsland. Sie wurde auch hier gejagt, war auch hier eine Fremde. Und diese Frau saß nun unten im Café und erklärte Pater Brody, dass sie hier nicht wohnen konnte, dass die Polizei kommen würde, um sie zu holen. Dann würden sie sie wohl auch einschläfern. Wie einen Schädling.
Der Beutel? Wo war ihr Beutel? Der stand neben der Kommode. Hirka riss ihn an sich. Stopfte die Kleider, das Notizbuch, die Lederbeutel mit den Kräutern hinein. Was noch? Die Tasse. Den Spiralstein, den Hlosnian ihr geschenkt hatte, in Elveroa. Bevor alles zum Draumheim ging. Bevor Vater starb. Sie fuhr mit dem Finger die Rillen entlang. Der Steinflüsterer hatte gesagt, die Gabe selbst habe ihn gemacht. Lange bevor es Leute gab. Sie ließ ihn in einen Beutel plumpsen. Die Pflänzchen auf dem Fensterbrett mussten zurückbleiben. Sie konnte sie nicht mitnehmen.
Dann nahm sie Kuro auf den Arm. Er war schlapp. Wärmer, als er sonst war. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. »Du kannst jetzt nicht krank werden. Wir können nicht hierbleiben. Verstehst du?« Sie schüttelte ihn vorsichtig, aber er schloss nur die Augen. Sie glichen bleichen Würmern auf dem Kohlschwarzen. Sie legte ihn zurück in die Schublade, lehnte den Kopf an die Kommode. Sie musste warten, bis es Nacht war. Sie konnte ihn in einem Karton aus dem Café mitnehmen. Bis dahin musste sie den Schein wahren, Pater Brody überzeugen, dass alles in Ordnung war. Sie schloss die Augen und holte so tief sie konnte Luft. Wenn sie nicht nach unten ging, würde Pater Brody hochkommen. Ihr blieb keine andere Wahl.
Sie stieg die Treppe wieder hinab. Draußen war es windig. Es hörte sich an, als schwebe ein Gespenst heulend im Turm hoch. Das machte nichts. Hirka hatte keine Angst vor Gespenstern. Sie war selbst eins.
Pater Brody saß auf der Bank, auf der Hirka vor Kurzem gesessen hatte. Er starrte zum Altar hinauf. Das bedeutete, dass er nicht wusste, was er tun sollte, oder dass ihm nicht gefiel, was er tun musste. Hirka setzte sich neben ihn und zog die Füße unter sich.
»Hmm, hmm«, sagte er und nickte ihr zu, als hätte sie etwas gesagt. Eine Weile war es still. Das Dach knarrte bei jedem Windstoß.
»Es gibt viel, was wir nicht über dich wissen, Hirka«, begann Pater Brody und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Eine Geste, die sie an Vater erinnerte. Das gab ihr einen Stich ins Herz und sie hätte sich am liebsten an ihn gekuschelt, aber sie konnte ihren Gefühlen jetzt nicht freien Lauf lassen. Außerdem käme es ihr wie ein Betrug vor, weil sie trotzdem weglaufen wollte, sobald es Nacht war.
»Genauso viel, wie ich nicht von euch weiß.« Hirka presste ein Grinsen hervor. Das war selten verkehrt. Wenn sonst nichts blieb, konnte ihr ein Lächeln dabei helfen, zu überleben. Pater Brodys Wangen röteten sich noch mehr. Er war für viele Monate ein sicherer Hafen gewesen. Er war ein guter Mann. Sie warf ihm nicht vor, was jetzt geschehen war.
»Du weißt, dass hier kein Ort ist, an dem Leute wohnen«, sagte er. »Das hier ist eine Kirche. Das ist Gottes Haus. Verstehst du, was das ist, Hirka? Was Gott ist?« Er sah beinahe hilflos aus. Hirka wusste nicht, wie sie ihn trösten könnte. Aber sie nickte. Sie hatte früher schon Leute mit Göttern kämpfen sehen. Sie war dabei gewesen, als Rime seinen verloren hatte.
Sein Blick ruhte auf dem Gemälde hinter dem Altar. Ein junger Mann in einem roten Kittel. Er war halb ausgezogen und hatte eine Wunde an der Seite. Ein Mann saß bei ihm und hatte den Finger in die Wunde gelegt. Vielleicht versuchte er, ihn zu heilen. Sie wusste es nicht. Über den Männern schwebte eine weiße Taube.
Hirka schaute Pater Brody an. Er hielt sich an der Rückenlehne der Bank vor ihnen fest und starrte das Bild an, als erwarte er von dort eine Antwort, die nicht kam. Sie legte ihm eine Hand auf den Rücken.
»Pater Brody, ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine ganz normale Taube ist.«
Das Gewächshaus
Hirka saß mit dem Rücken an der Wand und starrte auf die Glocken im Stockwerk über ihr. Sie waren wie schwarze Löcher, groß genug, um sie zu verschlucken, falls sie herunterfielen. Aber sie hingen dort schon lange, umgeben von Zahnrädern und Gebälk und Tauen, die ganz bis auf den Boden reichten, sodass Leute daran ziehen konnten und einen Lärm machten, der alle im Draumheim aufwecken würde. Vielleicht auch Vater.
Sie wollte wieder weglaufen. Das Einzige, was sie wirklich gut konnte: abhauen. Kam es am Ende nicht immer so?
Sie war von zu Hause weggelaufen. Aus der Hütte, aus Lindris Teestube. Sie war aus dem Fenster geklettert und über die Dächer von Mannfalla getürmt. Und in der Nacht, als der Baum des Sehers zerbrach. In der Schicksalsnacht, die alles verändert hatte. Sie erinnerte sich an Rimes Blick, als sie ihn gebeten hatte, ihren Beutel zu holen, ihn gebeten hatte, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um ihn aus den Kerkerschächten von Eisvaldr zu bekommen.
Sie hörte sich selbst lachen. Es wurde zu einem erstickten Schluchzen. Sie rollte sich zusammen, umklammerte den Beutel, um den Schmerz zu betäuben. Die Gedanken brannten. Es war, wie wenn man den Schorf von einer Wunde abreißt, aber sie konnte es nicht bleiben lassen.
Rime. Das weiße Haar. Die Wolfsaugen. Der Kuss.
Sie hatte gewusst, dass es keinen Weg zurück geben, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Aber nie war damals nur ein Wort gewesen. Jetzt war es mehr. Es waren Stunden, Tage, Monate. Nie hatte eine Bedeutung bekommen.
Er war jetzt Rabenträger. In einer Welt, in die sie nicht gehörte. Aber in diese Welt gehörte sie offenbar auch nicht. Vielleicht fühlte es sich aus dem Grund so ungerecht, so schmerzhaft, so unsicher an.
Der Mann mit dem Kapuzenpullover.
Dieser Überfall war kein Zufall gewesen. Er hatte sie beobachtet, auf sie gewartet. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er nicht der Einzige war. Da draußen war es gefährlich. Und sie hatte keinen Zufluchtsort. Dennoch … Sie konnte nicht warten, bis die Polizei sie abholte. Die Polizisten waren in dieser Welt die Gardisten und sie war früher schon einmal in die Hände der Gardisten geraten. Sie hatte nicht auf ihre Instinkte gehört und war geradewegs in den Ritualsaal gegangen, geradewegs in die Höhle des Löwen. Das würde sie nie wieder machen.
Kuro war jetzt kurzatmig. Er lag bewegungslos auf einem Handtuch in einem Pappkarton. Etwas stimmte nicht. Das konnte sie riechen. Hirka erstickte die Gewissheit und packte ihre übrigen Sachen ein. Etwas Geld von Pater Brody für ihre Hilfe. Den Rest an Tee und Kräutern, die sie noch hatte. Viel war es nicht mehr.