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Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen


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mit einer Binde vor den Augen. Kniend auf hartem Boden. Untier. Odinskind. Fäulnis.

      Von dem Vergleich wurde ihr schlecht. Es schien ihr die Kraft zum Gehen zu rauben. Hinderte sie daran, ihn zu verlassen. Verlassen … Kuro?

      War das hier Kuro? Nein. Wie konnte er das sein? Überall auf dem Steinboden war Rabenblut verschmiert. Es sah in der Dunkelheit schwarz aus. Kuro war in Stücke gerissen worden, um … diesem Dingsda das Leben zu schenken. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Sie hatte ihren eigenen Raben nicht retten können, sie, die sie eine Heilerin war. Sie, die sie …

      Hirka schloss die Augen. Erschöpft von der Erkenntnis. Sie war Heilerin. Das heilkundige Mädchen. Und das Wesen auf dem Boden lag im Sterben. Sie hatte keine Wahl.

      Sie hatte noch ein Bund Immerkraut übrig. Den letzten Tee aus Himlifall. Wenn sie den nicht mehr hatte, war sie hilflos. Nicht mehr in der Lage, auch nur Schmerzen zu lindern. Sollte das letzte Leben, das sie rettete, ein Totgeborener sein? Der sie in Stücke reißen würde, sobald er einen Arm heben konnte?

       Noch hat er dich nicht verletzt.

      Sie versuchte, ihn mit anderen Augen zu sehen. Wenn er doch nur … etwas weniger Mann gewesen wäre. Aber er war so offensichtlich stark. Gefährlich. Rohe Gewalt. Vater hätte ihr zur Flucht geraten. Rime hätte ihn schon längst getötet. Das wusste sie. Aber für die beiden war es etwas anderes. Sie hatten immer eine Wahl gehabt. Bei ihr war das nicht so. Ein Leben war immerhin ein Leben. Ihn sterben zu lassen, war genauso Selbstmord, wie ihn zu retten. Sie musste ihr Bestmögliches tun. Es war nicht ihre Aufgabe, zu entscheiden, wer leben durfte und wer nicht. Das war es nie gewesen.

      Sie war Heilerin. Das Sortieren sollten sie im Draumheim übernehmen.

      Sie holte die Schachtel aus dem Beutel. Sie war aus Rinde gemacht und kleiner als ihre Hand. Darin lag das Wertvollste, das sie besaß. Sie stand auf und zog den feuchten Regenponcho aus, stopfte ihn in den Beutel, während sie die Schachtel in der Hand festhielt. Woher sollte sie heißes Wasser bekommen? Der Tee brauchte Wärme, sonst würde er nicht das abgeben, was der da brauchte. Hier gab es keine Feuerstelle und sie konnte hier auch nichts verbrennen. Der Blinde stöhnte. Sein Körper wand sich in neuen Krämpfen. Er spuckte Blut. Er würde sterben.

       Der Ventilator. Ventilatoren werden heiß.

      Da hatte sie hier immerhin etwas gelernt.

      Sie goss Wasser aus dem Wasserbeutel in die Tasse. Ihre Finger zitterten nicht mehr. Die neue Entschlossenheit hatte ihr die Ruhe wiedergegeben. Sie kletterte auf einen Hocker und stellte die Tasse oben auf den Ventilator. Dadurch dröhnte er etwas tiefer. Sie öffnete die kleine Schachtel mit den Teeblättern, während sie wartete. Die Blätter waren perfekt getrocknet. Sie waren nicht ganz schwarz, sondern dunkelbraun. Die würden ihm helfen. So wie sie unzähligen anderen geholfen hatten.

      Sie roch an ihnen. Der Duft von Ymsland versetzte ihr einen Stich in die Brust. Das Heimweh kam. Das Gefühl, das sie bekämpft hatte, tauchte auf. Reue. Grausam. Es verseuchte sie. Wie eine Ertrunkene. Sie bereute so sehr, dass es brannte. Warum war sie weggegangen? Und was, wenn die Blinden jeden Ymling in Mannfalla töteten? Sie war ihnen nichts schuldig! Sie hätte alles dafür gegeben, um wieder mit Rime im Steinkreis zu stehen. Seine Arme um ihren Körper zu spüren und zu sagen, dass sie Ymsland nie verlassen würde. Dass sie dort, bei ihm, bleiben wollte. Für immer.

       Bis er dein wurde und verfaulte?

      Der Blinde gab ein Stöhnen von sich. Hirka holte die Tasse vom Ventilator. Das Wasser war nicht so heiß, wie es eigentlich sein sollte. Aber es musste so gehen. Sie gab die Teeblätter in die Tasse. Sie entfalteten sich. Der Duft versprach Leben. Sie trug die Tasse in beiden Händen. Durfte sie nicht fallen lassen. Dann kniete sie sich neben den Totgeborenen. Stellte die Tasse auf einer der Steinplatten ab, mit denen der Boden gepflastert war, etwas von ihm entfernt, falls er wieder Krämpfe bekam. Sie schob ihm die Hände unter den Kopf. Er war kalt. Sein Haar war lang und vom Rabenblut verklebt.

      Kuro

      Er öffnete die Augen. Hirka schauderte. Suchte in dem Weißen, um etwas zu finden, woran sie den Blick heften konnte, fand aber nichts. Er stützte sich auf die Ellenbogen. Die Kiefer spannten sich an, als versuchte er zu verbergen, wie viel Anstrengung ihn das kostete. Genauso hätte Rime es gemacht.

      Es gelang ihm, sich halb hochzuhieven, ehe er ihr in die Arme fiel. Sie hielt ihm eine Hand unters Kinn und hob die Tasse. Er streckte den Hals danach. Er verstand. Sie wagte es nicht, ihn die Tasse selbst halten zu lassen, sondern führte sie an seine Lippen, die bläulich waren.

      »Ich habe nur eine halbe Tasse«, sagte sie und versuchte zu lachen. Er reagierte nicht. Sie drehte die Tasse, damit er sehen konnte, dass sie so geformt war, als sei es nur die Hälfte einer Tasse. »Eine halbe Tasse. Verstehst du?«

      Nein. Und eigentlich war es auch nicht besonders lustig.

      Er trank. Hirka hielt die Tasse ganz fest. Er gurgelte, hustete, erholte sich aber und trank, bis sie leer war. Dann sackte er zusammen, blieb auf dem Rücken liegen, den Kopf auf ihrem Schoß. »Mehr«, murmelte er.

      Hirka starrte ihn an. Es war zwar nur ein Wort, aber ein Wort, das sie kannte. Er schloss die Augen.

      »Du sprichst Ymsländisch! Hallo? Du, Blinder!« Sie rüttelte ihn. Er schlug die Augen wieder auf und sie zuckte zusammen. Etwas Schwarzes hatte sich darin bewegt. Wie ein Tropfen Tinte in Milch. Aber jetzt war es wieder weg.

      »Wári«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

      »Woher? Woher was? Ich verstehe nicht …«

      »Wári! Gabe. Gib mir die Gabe!«, zischte er. Aber die Anstrengung wurde zu viel. Sein Kopf fiel zur Seite und sein Körper erschlaffte.

       Gabe …

      Das schönste Wort, das sie je gehört hatte. Und es kam von einem Nábyrn. Einem Totgeborenen. Der Kloß in ihrem Hals wurde größer und ihr wurde klar, dass sie mehrmals gezweifelt hatte. Daran gezweifelt hatte, dass es Ymsland noch gab. Daran gezweifelt hatte, dass es sie selbst noch gab, manchmal. Aber hier lag er und sprach ihre Sprache. Sagte Wörter, die sie nicht gehört hatte, seit sie weggegangen war. Bat um etwas, was sie ihm nie würde geben können. Nicht einmal, wenn die Gabe hier existierte, hätte sie ihm helfen können. Sie war Hirka. Ein Odinskind. Sie konnte nicht umarmen.

      »Du weißt ja gar nicht, was es hier alles gibt«, flüsterte sie. »Du hättest um Zauberei bitten können, mit deren Hilfe man mit Leuten überall auf der Welt sprechen kann. Oder um Licht, das nie ausgeht. Oder um einen Wagen, der von selbst fährt, schneller als jedes Pferd. Du hättest um warmes Wasser bitten können, das im Haus fließt! Schokolade. Eingefangene, aufbewahrte Geräusche in einer kleinen Dose. All das hätte ich dir geben können. Aber nie die Gabe, Nábyrn.«

      Beim letzten Worte zuckte seine Oberlippe. Ein spitzer Eckzahn schimmerte in der Dunkelheit.

      Todesangst

      Graal lehnte die Stirn ans Klavier und ließ den Fingern freien Lauf. Chopins vierte Ballade, von seinen Klauen auf den Tasten entstellt. Er versuchte, so wenig wie möglich mit den Fingerspitzen zu spielen, und das gelang ihm immer besser. Doch das Kratzen war trotz all seiner Bemühungen zu hören. An guten Tagen war es nur eine Erinnerung daran, wer er war. An schlechten Tagen … Nun ja, da war es wohl im Grunde genommen genauso. Er hielt es nur unterschiedlich gut mit sich selbst aus.

      Es lief immer gleich ab. Eine schleichende Unzufriedenheit, die sich über tiefe Frustration so weit steigerte, dass er außer sich vor Wut mit den Fäusten auf die Tasten eindrosch, bis sein maßloser Zorn das zerstörte, was hätte entstehen können. Unschöne Gewalt. Dafür konnte er dem Instrument auch nicht die Schuld geben. Es war ein Meisterwerk von Fazioli. Das Problem lag in der Wiedergabe. Beim Interpreten. Und dieses Problem hatte der Komponist nie gehabt.

      Er


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