Elfenzeit 6: Zeiterbe. Uschi ZietschЧитать онлайн книгу.
war zu verzeihen. Ignoranz war selbst in den Adelsschichten zu finden und dabei teilweise als kapriziöse Marotte gepflegt. Fanatismus hingegen war die Brutstätte von Gewalt und Anarchie. Etwas, vor dem Edmond nicht beabsichtigte, sich zu beugen.
Was hatte er so Schlimmes verbrochen? Er hatte seiner kindlichen Leidenschaft nachgegeben und auch als gereifter Mann weiterhin hinauf in die Sterne geblickt. Nur dass er heute keine Geschichten hinter den Sternenbildern mehr suchte, sondern die Zahlen und Formeln der Flugbahnen und Anziehungskräfte, die den Kosmos zusammenhielten.
Weil er vorausberechnen konnte, wann und wo der Mond sich zwischen Sonne und Erde schieben und zu welchem Datum dies selbst bei Tage passieren würde, war er deswegen doch nicht der Verursacher einer Sonnenfinsternis. Sie würde kommen. So oder so.
Doch speziell die strengeren Ableger des Christentums wollten davon nichts hören. Sie sahen immer noch in jedweder Wissenschaft den Teufel sprechen. Auch dieser Drohbrief stammte eindeutig von den Christi Sanguis et Aqua, den Anhängern von Blut und Wasser Christi. Das ließ sich unschwer aus den gewählten Worten herauslesen, auch wenn sie zu feige gewesen waren, ihre Signatur unter die Zeilen zu setzen.
Die Standuhr in dem kleinen Arbeitszimmer schlug zur halben Stunde. Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen. Es war eine große Ehre, vor den versammelten Mitgliedern der Royal Society sprechen zu dürfen. Und Edmond würde sich nicht von irgendwelchen Sektierern davon abhalten lassen. Nicht durch solch einen Akt, der Angst schüren und den Geist verzagen lassen sollte.
Als Wissenschaftler hatte er die Aufgabe, über die bekannten Grenzen hinaus zu blicken. Für ihn bedeutete das, auch das eigene Weltbild immer wieder herauszufordern. Sich mutig gegen das vermeintlich gefestigte Weltbild zu stellen. Nicht mit emotional überladenem Pathos, sondern mit Fakten und Beweisen im Gepäck.
Entschlossen rückte er seine Perücke zurecht, stand auf, stieg über den Drohbrief hinweg zu seinem Dokumentenschrank und zog die vorbereitete Kladde aus dem Regal. Dann warf er sich seinen besten Umhang über, den er für solcherlei Gelegenheiten und höhergestellte gesellschaftliche Auftritte hatte schneidern lassen. Gefertigt aus feinem Samtstoff, der in seiner Form einer Robe nahekam und andererseits schlicht genug gehalten war, um nicht protzig zu wirken. Denn unnötiger Prunk lenkte von dem eigentlichen Thema seiner Arbeit ab.
Heute war es die Berechnung der magnetischen Deklination und die damit einhergehende Lösung des Längenproblems in der Nautik. Die Ergebnisse würden die Routen in der Seefahrt präziser berechenbar machen und damit sowohl Risiko, als auch Reisezeit und Proviant einsparen. Und das alles mit Hilfe der Sterne.
Edmond Halley stand bereits im Türrahmen, als er noch einmal über die Schulter blickte und das Papier auf dem Boden neben seinem Schreibtisch fixierte. Für die Wissenschaft, dachte er. Gegen Tyrannei und Aberglaube. Schreite mutig voran, Edmond. Die Welt braucht dich und deinen klugen Kopf. Egal, wie schwer dir dieses Blatt Papier auch im Magen liegen mag.
Ein Zwiegespräch mit sich selbst, wie er es häufig tat, wenn er für längere Zeit nicht bei Frau und Kindern weilte. Die Zweitwohnung in London war eine kostspielige Sache und doch unabdingbar für ihn, um die nötige Ruhe für seine Arbeit zu finden.
Mary war eine gute Frau. Sie hatte ihm einen Sohn und zwei Töchter geschenkt. Brave strebsame Geister, die keinen Grund zur Klage gaben. Doch sie konnten nicht ändern, dass ein Teil davon nur Fassade war. Denn Herzen ließen sich nichts von Logik oder gesellschaftlichen Normen vorschreiben. Sie liebten, wen sie liebten. In Edmonds Fall war das vornehmlich die Wissenschaft.
Über London hing, wie an fast jedem Tag, der gewohnte graue Dunstschleier. Ein Geschenk der Themse an die Bewohner, wie es so schön hieß. Dazu strahlte der Himmel diese drückende Sommerhitze ab, von der man Kopfschmerzen bekam. Durch die Straßen wehte ein staubig-stickiger Wind und zerrte an Edmonds Umhang.
Kurz überlegte er, sich eine Kutsche zu nehmen. Doch der Blick in die Geldbörse belehrte ihn, sich besser auf seine Füße zu besinnen.
Das Gebäude der Royal Society war fünf Straßen entfernt. Deutlich kürzer, als er sonst zur Universität unterwegs war. Zusätzlich würde er die Abkürzung durch den St. James’ Park nehmen. Ein wenig Sauerstoff mochte helfen, das Dröhnen hinter den Schläfen verstummen zu lassen.
Zu dieser Jahreszeit flanierten die Menschen dort, um sich zu zeigen, unverfänglich Bekanntschaften zu knüpfen und aus der Ferne zu flirten, wie es die Vögel in den Bäumen, die Fische in den Seen und die Katzen in den Sträuchern taten. Ein Kreisen umeinander, durch Anziehung und Abstoßung choreografiert, das sich selbst im komplizierten Reigen von Sternen und Planeten wiederfand.
»Sie sind spät dran!«, hörte Edmond von der Seite eine bekannte Stimme rufen.
Herold Windsworth, ein weiteres Mitglied der Royal Society und Mathematik-Professor, der nicht mehr lehrte. Dennoch verpasste er kaum eine Sitzung der wissenschaftlichen Vereinigung, um seine persönlich gefärbte Sicht auf die Dinge kundzutun.
»Mitnichten!«, erwiderte Edmond. »Denn auf meiner Uhr wird es exakt dann zur vollen Stunde schlagen, wenn ich die Tür des Sitzungssaals öffne.«
»Ihre Zuversicht hätte ich in jüngeren Jahren gebraucht«, erwiderte der Professor und schloss mit zügigen Schritten zu ihm auf.
»Es ist weniger die Zuversicht, als die gewählte Perspektive, die es mir unmöglich machen wird, zu versagen«, scherzte Edmond.
So eine Plauderei half, den nagenden Schatten auf seiner Seele zu verdrängen. Doch auch auf seinem Weg gab es die erhobenen Zeigefinger, die Anklagen und Leugnungen, die ihm entgegenschrien.
»Wird uns der Mond auf den Kopf fallen und in ewige Nacht stürzen? Lesen Sie!«, rief ein Zeitungsjunge und hielt ihnen einen gedruckten Zettel hin.
Edmond spannte die Kiefer an. »Scharlatane«, zischte er und marschierte ungebremst weiter.
»Sie scheinen mir dieser Tage fast so oft in aller Munde zu sein wie das Königshaus und die Querelen zwischen Georg I. und den Jakobiten«, sagte Herold Windsworth ein wenig spöttelnd. »Halten Sie es immer noch für eine gute Idee, Ihre Theorien so öffentlich zu verbreiten?«
»Es sind keine Theorien. Es sind Fakten. Das sollten Sie als Mathematik-Gelehrter doch am besten wissen. Und was sonst sollte ich damit anfangen? Ich forsche nicht für die Schublade. Ich arbeite im Dienst der Menschheit.«
»Und es ist ein Segen, dass wir solch emsige Wissenschaftler in unseren Reihen haben«, lenkte der Professor beschwichtigend ein und zwirbelte eine seiner Perückenlocken. »In diesem Fall scheint mir allerdings die Frage erlaubt, ob die Menschheit dieses Wissen wirklich haben möchte.« Er deutete unmissverständlich auf Männer, die Papiere verteilten, auf denen in großen Lettern zu lesen war: »Tod all jenen, die den Teufel in Reagenzgläsern züchten«, oder: »Wenn der Teufel die Sonne verdunkelt, werden die Toten aus ihren Gräbern steigen.«
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Was heute neu ist, wird morgen normal sein«, antwortete Edmond Halley so ruhig es ihm möglich war. Doch die Angst hatte sich an ihm festgekrallt und kletterte langsam aber sicher seine Eingeweide hinauf und machte ihm den Magen flau.
Starrten ihn die Menschen an, an denen er vorüberging? Verfolgten sie ihn mit ihren Blicken? Flüche murmelnd und Schimpfworte hinter ihm ausspuckend?
Der Peitschenknall eines Kutschers ließ Edmond zusammenfahren und sich ducken. Der Professor blieb neben ihm stehen und sah ihn nun geradezu mitleidig an. »Sie hätten sich ein anderes Fachgebiet wählen sollen, mein Freund.«
Ich bin nicht Ihr Freund, wollte Edmond erwidern. Doch das geziemte sich nicht einem älteren Gentleman gegenüber. Und dazu noch einem so renommierten. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und zuckte grimmig mit den Schultern. Er würde sich seine Worte für den Vortrag aufsparen. Wenn Leute vor ihm saßen, die sein Streben zu schätzen wussten.
Als sie das Eingangsportal des ehrwürdigen Baus erreichten, hielt Edmond inne, um sich zu sammeln. Er atmete einmal tief durch, klopfte sich den Staub von den Kleidern, rieb sich die Schuhe an den Hosenbeinen blank und straffte sich, bevor er dem Professor