Aufbruch in die Dunkelheit. Mark StichlerЧитать онлайн книгу.
hat. Ach was, ich weiß genau, dass es ihr nicht gutgetan hat. Sie führt ein sündhaftes Leben.
Doch für Jakob war der Krieg heilsam. Als er Jahre später wiederkam, war sein sogenannter Krieg längst vorbei. Jella und ich waren da schon junge Mädchen. Ich erinnere mich an den Sommer, in dem er zurückkam. An die Farben und den Duft der Blumen, die Wärme, den Wind … Wir gingen am Fluss spazieren, alles war in Bewegung, die Blätter der Bäume schimmerten silbern. Auf ihren Nachen saßen ein paar Fischer … Nein, es war nur einer. An eines erinnere ich mich ganz genau: Er saß in seinem Boot in einer Biegung des Flusses. An dieser Stelle gab es kaum Strömung, das Wasser war dunkelgrün, gefärbt vom Wiederschein der Bäume und Büsche am Ufer. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er seine Angel an und ein großer Fisch mit blauem Rücken und weißem Bauch schnellte an der Leine durch die Luft. Er zappelte und wehrte sich, doch der Fischer zog erbarmungslos seine Leine weiter ein, nahm einen Kescher vom Boden seines Nachens und brachte ihn an Bord. Mit einer Handbewegung entfernte er den Haken, legte den Fisch in einen Wassereimer und warf die Angel wieder aus. Dann verharrte er in derselben reglosen Stellung wie zuvor, seine braunen Arme auf die Knie gestützt starrte er ins Wasser, als würde er träumen. Erst als Jella ihn ansprach, hob er den Kopf.
Jakob hatte sich verändert. Er kümmerte sich nicht mehr um Freiheit, um die Politik oder die Menschheit. Er blieb daheim. Das war das Beste, was er machen konnte. Lange Zeit hat er nicht mit uns gesprochen. Er hat mir nie erzählt, was geschehen ist, und ich wollte es auch nicht wissen. Jella schon. Mir genügte es zu sehen, dass er ein anderer Mensch geworden war. Einer, der den höheren Willen akzeptierte und der nicht mehr versuchte, der Welt den seinen aufzuzwingen. Wie vermessen er gewesen war …
Jetzt gibt es auch keine Geräusche mehr. Das ist nicht der normale Tod. Der normale Tod tötet doch nicht alles. Er lässt immer etwas übrig. Oder bin ich die Einzige, die er übriggelassen hat? Zusammen mit all dem Schmutz, den besudelten Laken … Das viele Wasser, die Mittelchen und Pulver, das unverdaute Essen, das ich erbreche, der Schlamm, in den ich mich auflöse, das Blut, das mir von innen in die Augen steigt … Es ist ihnen einfach zu viel geworden.
Es ist unmöglich, das Leid des Körpers von dem der Seele zu trennen, hat Rabbi Samuel gesagt. Das Leid des Körpers schlägt sich immer auf die Seele und das Leid der Seele immer auf den Körper nieder. Es muss möglich sein, das Leid des Körpers von der Seele zu trennen. Wo liegt die Ursache? Gibt das schwarze Blut mir diese Gedanken ein? Oder verursacht die Seele das schwarze Blut? Was fragt er mich das? Ich liege hier wie ein Brett und um mich herum geht eine Welt zugrunde. Ein Ort der Finsternis.
Aber dieses ganze Gejammer bringt ja nichts. Es wird wirklich Zeit, dass ich wieder auf die Beine komme. Es gibt doch niemanden, der den Haushalt führt. Dieses verlotterte Mädchen macht nie richtig sauber. Alles bleibt liegen. Nichts wird gemacht. Ich würde ja rufen, aber … Im Zweifel sind die Menschen keine Hilfe …
Schaum stieg aus Leas Mund auf. Sie machte zwei schwere Atemzüge, ein paar kleine Blasen bildeten sich, ihre Hand verkrampfte, mit der sie vor ein paar Minuten noch unbarmherzig Linas Haar gepackt hatte. Ihr Blick gefror und blieb an einer Stelle an der Decke hängen, die sich durch nichts von jeder anderen Stelle an der Decke unterschied.
„… und dann entdeckten wir das zerbrochene Fenster. Irgendjemand hatte es eingeschlagen und geöffnet, ganz offensichtlich, um ins Kontor einzusteigen. Simon hat behauptet, das Fenster wäre schon lange kaputt, aber ich frage euch: Woher will er denn das wissen?“ Ava saß auf der Couch im Salon und sah die anderen triumphierend an. Um sie herum saßen und standen drei junge Damen und vier Herren: Hans, Eduard, Simon und Herr Stange. Hans allerdings hatte sich mit einer Teetasse in der Hand etwas abseits gestellt und schien ihrer Erzählung nur mit halbem Ohr zu folgen. Aber immer wieder warf er Ava einen flüchtigen Blick zu.
Simon hatte in einem Sessel gegenüber seiner Schwester Platz genommen und winkte bei ihren Worten unwillig ab. Eduard, Herr Stange und die drei jungen Damen neben ihm schienen weit größeres Interesse an Avas Geschichte zu haben. Herr Stange und die Alsberg-Schwestern waren regelmäßig zu den Salons von Ava und Simon eingeladen. Ina und Doris Alsberg gehörten zu einer der angesehenen Familien in Waldbrügg. Hans und Eduard hielten nicht sehr viel von ihnen. Hans behauptete steif und fest, sie teilten sich nur ein Gehirn. Wenn überhaupt … Aber es gehörte eben, wenn es vielleicht auch nicht gerade eine Pflicht war, doch zum guten Ton, die Schwestern einzuladen. Und dass sie regelmäßig erschienen, war für die Mandelbaums durchaus von gesellschaftlichem Wert. Hans war allerdings auch der Meinung, sie tauchten bei Avas Gesellschaften hauptsächlich deshalb auf, weil sich ab und zu auch Andreas von Bergen dort blicken ließ, der bei seinem Vater Baron von Bergen nicht weit von Waldbrügg auf dessen Herrensitz lebte. Baron von Bergen hatte in der Kavallerie als Oberst der Dragoner gedient und sich während des Deutsch-Französischen Krieges einige Orden verdient. In der näheren Umgebung der Stadt gab es nicht viel Adel, was wohl zudem einer der Gründe dafür war, dass die von Bergens von der städtischen Gesellschaft sehr hofiert wurden. Heute war Andreas von Bergen allerdings noch nicht aufgetaucht und bei jedem Geräusch, das aus der Richtung der Tür kam, hoben die Alsberg-Schwestern ruckartig die Köpfe wie Enten auf einem See. Hans quittierte es jedes Mal mit einem verächtlichen Lächeln.
Die dritte Dame im Raum war Judith Blum, ein erst vor Kurzem mit ihren Eltern nach Waldbrügg gekommenes junges Mädchen aus der jüdischen Gemeinde. Ava hatte sich bald mit ihr angefreundet und sie ein wenig unter ihre Fittiche genommen. Sie versuchte, Judith die Eingewöhnung in ihre neue Umgebung zu erleichtern. Allerdings waren ihre Eltern sehr strenggläubige Leute, die ihre Tochter kaum einmal unbeaufsichtigt außer Haus ließen. Umso mehr genoss sie diesen Abend, an dem sie nur dank der Fürsprache Jakob Mandelbaums teilnehmen durfte, der sein Ehrenwort gegeben hatte, gut auf sie aufzupassen.
„Und was ist dann passiert?“, fragte Judith jetzt ungeduldig. Sie war augenscheinlich diejenige, die Avas Geschichte die größte Aufmerksamkeit entgegenbrachte.
„Nichts ist passiert“, sagte Simon ungehalten. Aus irgendeinem Grund nahm er an, Ava würde die Geschichte hauptsächlich erzählen, um ihn vor den anderen zu blamieren. Obwohl an sich ja gar nichts geschehen war. Möglicherweise ärgerte er sich auch selbst über seine zögerliche Haltung, derentwegen Ava ihm mehrere Male vorgeschlagen hatte, selbst vorauszugehen.
„Simon wollte wieder gehen und das Kontor abschließen, sodass niemand ins Haus gelangen kann“, sagte Ava und lächelte.
„Eine gute Idee“, meinte Eduard.
„Danke“, erwiderte Simon erleichtert und nickte Eduard zu.
„Ihr habt doch bestimmt einen Handwerker gerufen, um das zu reparieren, nicht wahr?“
Simon schüttelte den Kopf.
„Das machen wir gleich nächste Woche. Bis dahin bleibt das Kontor abgeschlossen. Es gibt ohnehin keinen Grund mehr, es offenstehen zu lassen.“
„Wir haben einen Keller entdeckt. Ein schwarzes, bodenloses Loch, in das eine Treppe nach unten führt“, unterbrach Ava ihren Bruder. „Ich hatte es noch nie zuvor bemerkt und auch Simon ist nie zuvor da unten gewesen.“ Sie hatte ihre Stimme gesenkt und sprach in einem verhaltenen Flüsterton. „Wir konnten die Hand nicht vor Augen sehen und unsere Kerze leuchtete gerade mal einen Meter weit.“
„Ach, übertreibe doch nicht so maßlos“, rief Simon. „Wie sonst hätten wir denn sehen können …“
„Psst“, rief Ava eifrig. Eduard lachte. Er fand Avas Vorliebe für geheimnisvolle Geschichten und Abenteuer etwas überspannt, aber doch auch sehr charmant.
„Ja, wir sahen etwas weiter“, fuhr Ava fort und warf ihrem Bruder einen ungnädigen Blick zu. „Aber was wir sahen, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren.“ Sie machte eine kunstvolle Pause. Simon verdrehte die Augen.
„Ja, was denn?“, fragte Doris Alsberg, die ältere der beiden Schwestern, schließlich. Offenbar hatte Avas Erzählung auch sie jetzt in ihren Bann geschlagen.
„Es hingen schwere Ketten an den Wänden. Folterwerkzeuge … Und in der Mitte stand ein großer Holzblock mit einem Beil“, sagte Ava mit Grabesstimme und warf vielsagende Blicke in die Runde.