Aufbruch in die Dunkelheit. Mark StichlerЧитать онлайн книгу.
der kleinen Modeboutique wollten, die sich seit ein paar Monaten hinter dem Rathaus befand. Der Schneider bezog seine Stoffe von Escher. Sichtlich empört blieben die beiden stehen und riefen dem Jungen etwas hinterher, doch er hielt nicht an. Kurz erregten drei Männer in eleganten Anzügen am anderen Ende des Platzes Eschers Aufmerksamkeit. Geschäftsleute vielleicht … Aber sie verschwanden in der Gasse hinter der Kirche, bevor er erkennen konnte, um wen es sich handelte.
Der Raum hinter Escher lag im Halbdunkel. Schon des Öfteren hatte er in der Vergangenheit bemängelt, dass ausgerechnet das Büro des Bürgermeisters der dunkelste Raum im ganzen Rathaus war. Die kleinen, tief liegenden Fenster zeigten nach Norden und Osten und es kam vor, dass man trotz Sonnenschein die Lampen bereits am Nachmittag anzünden musste. Aber es war eben auch mit Abstand das größte Büro des Gebäudes. Also fand er sich damit ab.
Er hatte es sich so gut eingerichtet, wie es nach seinen Maßstäben möglich war. An den getünchten Wänden waren goldene Gasleuchten angebracht, den Dielenboden bedeckte ein beigefarbener, mit orientalischen Ornamenten bestickter Teppich, den er von einer seiner Geschäftsreisen mitgebracht hatte. Er nahm ein gutes Viertel des Bodens ein und reichte bis zu seinem schweren Schreibtisch, der schon seit Generationen unverrückt im hinteren Drittel des Zimmers stand. Entlang der Wand neben der Tür, die hinaus auf den Flur führte, reihten sich einige schmale Stühle mit hohen Lehnen. Vor dem Schreibtisch, in schrägem Winkel zueinander, standen zwei Sessel, deren Lehne und Sitzfläche aus Leder waren. An der Wand dahinter hatte ein Maler die Wappen Waldbrüggs und der umliegenden kleineren Gemeinden mit zunehmend verblassenden Farben aufgetragen. An manchen Stellen bröckelte der Putz. Es war dringend notwendig, die Malerei auszubessern. Doch der alte Escher hatte keinen Sinn dafür. Er kannte es nicht anders. Schon sein Großvater hatte in diesem Büro gesessen und in den wenigen Malen, die er ihn als Kind in diesem Raum besuchen durfte, war ihm das Wappen, so, wie es war, immer als bedeutend und gewichtig erschienen.
Es klopfte leise an der Tür.
„Ja?“ Escher fuhr sich mit einer hastigen Bewegung über den Bart und wandte sich um.
Herr Albrecht, der Sekretär, der seine Termine im Rathaus verwaltete, streckte den Kopf zur Tür herein. Es dauerte einen Moment, bis er den Bürgermeister am Fenster entdeckte.
„Mandelbaum ist da“, sagte er und richtete seinen starren, stechenden Blick auf Escher.
„Einen Moment“, erwiderte Escher und begab sich hinter seinen Schreibtisch. Er wollte Mandelbaum auf keinen Fall stehend empfangen. Vor ihm lagen Baupläne der neuen Brücke und einige Ordner. Willkürlich schlug er einen von ihnen auf.
„Schicken Sie ihn herein“, sagte er dann und nahm seine Brille.
Herr Albrecht zog die Tür wieder ein Stück zu und einen Moment später trat Mandelbaum mit Schwung, aber doch beinahe geräuschlos ein. Er war ein schmaler Herr, an den Schläfen wichen seine grauen Haare schon deutlich zurück. Sein für Waldbrüggs Verhältnisse sehr moderner, aber nicht extravaganter Anzug saß tadellos. Einen kurzen Augenblick blieb er stehen und kniff die Augen zusammen, wie um sich an die diffusen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Vielleicht trug er normalerweise auch eine Brille, die er jetzt aber nicht bei sich hatte. Leichtfüßig bewegte er sich durch den Raum und blieb vor Eschers Schreibtisch stehen.
„Jakob, nur einen ganz kurzen Moment“, murmelte Escher. Er hatte die Stirn in die Hand gestützt, einen Stift vom Schreibtisch genommen und kritzelte eine Notiz in die Akte, die er aufgeschlagen hatte. „Setz dich doch.“ Er zeigte mit dem Stift auf einen der Sessel vor sich.
Mandelbaum lächelte.
„Guten Tag, Franz.“ Er sah sich um. „Ich warte“, sagte er, setzte sich aber nicht in den Sessel, sondern ging hinüber zu dem Fenster, an dem vor wenigen Minuten noch Escher selbst gestanden hatte.
Escher zog unwillig die Augenbrauen zusammen und zwang sich, seine Notiz zu Ende zu schreiben. Einen Augenblick herrschte Stille. Schließlich legte Escher den Stift beiseite.
„So. Nun komm. Setz dich doch“, sagte er und klang ein wenig ungehalten.
Mandelbaum kam vom Fenster zurück und setzte sich. Escher blickte ihn an und lächelte unverbindlich. Unwillkürlich musterte er ihn. Sie kannten sich schon lange und immer hatte er den Eindruck gehabt, als ginge die Zeit fast spurlos am alten Mandelbaum vorbei. Doch jetzt sah er müde aus, kleine, aber sichtbare Fältchen und ein leichter Schatten hatten sich unter den Augen gebildet. Seine Haut wirkte grau, das konnte aber auch am Halbdunkel im Raum liegen.
„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen“, sagte Escher. „Wie geht es dir?“
Mandelbaum seufzte.
„Eigentlich geht’s mir ganz gut“, erwiderte er und fuhr sich mit einer schnellen Geste über die Augen, als wolle er die Müdigkeit vertreiben. „Aber meine Schwester …“ Er vollendete den Satz nicht.
Escher runzelte die Stirn.
„Jella oder Lea?“, fragte er.
„Lea“, sagte Mandelbaum. „Es geht ihr sehr schlecht und ich glaube …“ Wieder brachte er den Satz nicht zu Ende. „Jella geht es jedenfalls gut. Das nehme ich zumindest an“, fuhr er stattdessen fort. „Ich habe schon länger nichts mehr von ihr gehört und das ist bei ihr immer ein gutes Zeichen. Ich habe ihr jetzt allerdings wegen Lea geschrieben und hoffe, bald eine Nachricht zu bekommen.“
„Lebt sie noch in Frankfurt?“, fragte Escher. Er hatte sie schon lange Jahre nicht mehr gesehen. In ihrer Jugend war Jella eine sehr schöne Frau gewesen. Escher erinnerte sich ganz dunkel an etwas, das man damals wohl einen Skandal genannt hatte. Die junge Jüdin und … Hatte sie eine Affäre gehabt? Auf jeden Fall hatte sie Waldbrügg nach dieser Geschichte sehr überstürzt verlassen. Ihm war es offensichtlich nicht wichtig genug gewesen. Er wusste es nicht mehr. Das alles mochte mindestens zwanzig Jahre her sein.
„Ja, natürlich“, sagte Mandelbaum. „Keine zehn Pferde würden sie von dort wegbringen. Aber ich denke, dass sie uns sicher bald besuchen kommt. Es gibt ja noch einen Grund.“ Er räusperte sich. „Einen erfreulichen. Ava wird heiraten.“
Escher sah ihn erstaunt an.
„Deine Tochter? Ist sie …“ Irritiert fuhr er sich mit einer schnellen Handbewegung über seinen Bart. „Sie ist im gleichen Alter wie Hans, nicht wahr?“
„Sie wird einundzwanzig“, erwiderte Mandelbaum. „Es wird Zeit. Sie hat einen jungen Mann aus der Möbelmanufaktur kennengelernt. Er ist einer meiner tüchtigsten Mitarbeiter.“ Er räusperte sich noch einmal und setzte dann ein leichtes Lächeln auf. „Ich freue mich sehr, dass du dich nach meiner Familie erkundigst, Franz“, fuhr er fort und zögerte. „Aber … Du hast sicher noch etwas anderes auf dem Herzen, nicht wahr? Sagst du mir, was so wichtig ist, um dafür einen offiziellen Termin im Rathaus zu vereinbaren? Ich nehme an, du hast mich aus einem bestimmten Grund hierherbestellt.“
Escher betrachtete ihn einen Augenblick aufmerksam. Er war sich nicht sicher, ob Mandelbaum wegen des Termins besorgt war oder ob er sich im Gegenteil ein klein wenig über ihn amüsierte. Er spürte einen leisen Ärger in sich aufsteigen. Sein Blick wanderte auf die Baupläne vor sich.
„Nun“, sagte er streng. „Es gibt Dinge, die man nicht kurz bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße bespricht.“ Den ganzen Vormittag hatte er versucht, sich eine Strategie, eine Vorgehensweise zurechtzulegen, und wusste jetzt doch nicht, wie er die Sache richtig angehen sollte. Aber er hatte ein Thema, das Mandelbaum interessieren könnte, einen kleinen Umweg, der ihn indirekt, aber vielleicht doch zum Ziel bringen würde, und beschloss, es einfach aufs Geratewohl zu versuchen. „Es ist eine heikle Angelegenheit.“
Eine Pause entstand, während der Escher konzentriert auf seinen Schreibtisch blickte. Mandelbaum schlug die Beine übereinander und wartete geduldig.
„Wie du vielleicht schon weißt, soll in naher Zukunft die allgemeine Gewerbesteuer für Unternehmen eingeführt werden“, fuhr Escher unvermittelt mit lauter Stimme fort. Mandelbaum zuckte zusammen. Es war das erste Anzeichen überhaupt, dass er nervös sein könnte.