Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de MaupassantЧитать онлайн книгу.
andere Anschauung vom Leben und Dasein gewinnen. Versuchen Sie also alles abzuschütteln, was Sie umgibt; machen Sie die übermenschlichsten Anstrengungen, um bei lebendigem Leibe sich aus Ihrer Haut, Ihren Interessen, Ihren Gedanken, aus der gesamten Menschheit loszulösen und über all das hinauszublicken, und Sie werden begreifen, wie gleichgültig und belanglos der Streit zwischen Naturalisten und Romantikern, sowie die ganzen Etatsdebatten sind.«
Er beschleunigte seinen Schritt:
»Aber dann werden Sie auch die furchtbare Trübsal der Hoffnungslosen empfinden. Verlassen und verloren werden Sie im Ungewissen sich abquälen. Sie werden, nach allen Seiten um Hilfe rufen und niemand wird Ihnen, antworten. Sie werden die Arme emporstrecken, Sie werden flehen, daß man Ihnen hilft, Sie liebt, tröstet, rettet, und es wird niemand kommen.
Und warum müssen wir so leiden? Gewiß, wir sind mehr zum körperlichen als zum geistigen Leben geboren; aber durch unser Denken ist ein Mißverhältnis entstanden zwischen unserer wachsenden Erkenntnis und den unveränderlichen Lebensbedingungen.
Sehen Sie sich die beschränkten Menschen an. Wenn sie nicht zufällig schwere Schicksalsschläge treffen, sind sie zufrieden und leiden nicht unter dem allgemeinen Unglück. Auch die Tiere haben kein Empfinden dafür.«
Nochmals blieb er stehen und sann eine kurze Weile nach. Dann sagte er mit minder resignierter Stimme:
»Ich bin ein verlorenes Geschöpf; ich habe weder Vater noch Mutter, noch Bruder, noch Schwester, noch Weib, noch einen Gott.«
Nach einer Pause fügte er hinzu:
»Ich habe nur den Reim.«
Und er hob den Kopf zum Firmament, an dem das bleiche Vollmondantlitz leuchtete und deklamierte:
»Vergeblich such’ ich dieses Rätsels Schlüssel
am bleichen Mond, am weiten Sternenhimmel.«
Sie kamen zur Pont de la Concorde, schweigend schritten sie über die Brücke und gingen am Palais Bourbon entlang. Norbert de Varenne begann von neuem:
»Heiraten Sie, lieber Freund, denn Sie wissen nicht, was es in meinem Alter heißt, allein zu sein. Heute erfüllt mich die Einsamkeit mit einer entsetzlichen Angst, die Einsamkeit in der Wohnung, wenn ich abends am Feuer sitze. Dann scheint es mir immer, als wäre ich allein auf der Welt, umgeben von dunklen Gefahren und allerlei unbekannten, schrecklichen Dingen; und die Wand, die mich von meinem unbekannten Nachbar trennt, entfernt mich von ihm so weit wie die Sterne, die ich durch das Fenster sehe. Mich überfällt dann eine Art Fieberwahn, der Fieberwahn der Furcht und des Schmerzes, und das Schweigen der Wände entsetzt mich. Es ist so tief und so traurig, das Schweigen in dem Zimmer, in welchem man ganz allein lebt. Es umfängt nicht bloß den Körper, sondern auch die Seele, und wenn ein Stück Möbel kracht, erbebt einem das Herz, denn man erwartet kein Geräusch in dieser trüben Behausung.«
Nach einer Pause setzte er hinzu:
»Wenn man alt ist, muß es doch schön sein, Kinder zu haben!«
Sie waren in der Mitte der Rue Bourgogne angelangt. Vor einem hohen Hause blieb der Dichter stehen, klingelte, schüttelte Duroy die Hand und sagte:
»Vergessen Sie das unnütze Geschwätz des Alten, junger Freund, und leben Sie, wie es Ihrem Alter gebührt! Adieu!«
Und er verschwand in dem finsteren Flur.
Duroy ging mit beklommenem Herzen weiter. Ihm war, als hätte man ihm eine Grube voll menschlicher Knochen und Schädel gezeigt, und in diese Grube mußte auch er eines Tages unweigerlich stürzen.
Er murmelte:
»Donnerwetter! Sehr lustig muß es da oben bei ihm nicht sein! Ich würde es lieber vorziehen, beim Vorbeimarsch seiner Gedanken nicht anwesend zu sein. Weiß Gott! Nein!«
Er war stehengeblieben, um eine stark parfümierte Dame vorbei zu lassen, die aus dem Wagen stieg und in ihr Haus ging; mit vollen Zügen atmete er den Duft der Verbenen und Iris ein, der sich in der Luft verflüchtigte. Plötzlich klopfte sein Herz wieder laut vor freudiger Hoffnung, und die Erinnerung an Madame de Marelle, die er morgen wiedersehen sollte, erfüllte ihn von Kopf bis zu Fuß. Alles lächelte ihm zu und das Leben nahm ihn zärtlich in seine Arme. Wie schön war es, seine Hoffnungen verwirklicht zu sehen!
Wie in einem Rausch schlief er ein und erhob sich ziemlich früh, um noch einen Spaziergang in der Avenue du Bois de Boulogne zu machen, ehe er zum Rendezvous ging.
Der Wind hatte sich über Nacht gedreht, es war milder geworden, so daß man sich fast im April glauben konnte. Alle ständigen Besucher des Bois waren unterwegs; sie waren dem Lockrufe des heiteren, warmen Himmels gefolgt.
Duroy ging langsam und atmete behaglich die milde Luft in sich ein. Hinter der Arc de Triomphe de L’étoile bog er in die große Avenue ein, auf der entgegengesetzten Seite des Reitweges. Da trabten und galoppierten an ihm Damen und Herren vorbei, die Reichen dieser Erde, die er aber heute kaum noch beneidete. Er kannte sie fast alle beim Namen, wußte die Höhe ihres Vermögens und kannte die Geheimgeschichten ihres Lebens, denn sein Beruf hatte ihn zu einer Art Almanach aller Pariser Berühmtheiten und Skandale gemacht.
Die Damen ritten vorbei, zierlich und schlank in ihren dunklen Tuchkleidern und hatten etwas Hochmütiges und Unnahbares im Ausdruck, wie es Reiterinnen oft haben.
Duroy erlaubte sich den Spaß und sagte halblaut die Namen, Titel und Eigenschaften der Liebhaber her, die sie gehabt hatten oder die man ihnen nachsagte, so wie man Litaneien in einer Kirche murmelt, bisweilen aber, anstatt zu sagen: »Baron de Tanquelet, Prinz de la Tour Enguerrand,« murmelte er: »Geschmack Lesbos; Louise Michot vom Vaudeville, Rose Marquetin von der Opéra.«
Dieses Spiel machte ihm viel Vergnügen; es tröstete ihn, erheiterte ihn und reizte ihn auf, unter dem Anschein ernster und würdiger Tugend die tief unausrottbare Gemeinheit der Menschheit zu entdecken.
Dann sagte er ganz laut: »Heuchlerbande!« Und seine Blicke suchten diejenigen Reiter heraus, über die die schlimmsten Geschichten im Umlauf waren.
Er sah viele, die man als Falschspieler in Verdacht hatte, für die die Klubs jedenfalls eine große und einzige Geldquelle, und sicherlich auch eine verdächtige Geldquelle waren.
Andere ganz berühmte Persönlichkeiten lebten ausschließlich von dem Vermögen ihrer Frauen, andere, wie man behauptete, von dem Gelde ihrer Geliebten. Viele hatten ihre Schulden bezahlt (eine höchst ehrenhafte Handlung), ohne daß man je eine Ahnung hätte, woher sie das nötige Geld aufgetrieben hatten (ein recht verdächtiges Geheimnis). Er sah Finanzmänner, deren gewaltige Vermögen von einem Diebstahl herrührten, Leute, die überall empfangen wurden, selbst in den vornehmsten Häusern. Er sah Herren, die so geachtet waren, daß die kleinen Leute ehrfurchtsvoll den Hut abzogen, wenn sie vorbei kamen, trotzdem ihre schamlosen Betrügereien in öffentlichen Unternehmungen für keinen, der hinter die Kulissen der großen Welt einen Einblick hatte, ein Geheimnis waren. Hochmütig und stolz ritten sie daher und blickten keck und unverschämt in die Welt hinein. Duroy lachte immer noch und wiederholte: »Das ist ein richtiges Gaunerpack! Schwindler!«
Da kam in schnellem Trabe ein reizender, offener, niedriger Wagen vorbei, vor den zwei Schimmelponys mit flatterndem Schweif und Mähne gespannt waren. Eine zierliche, junge Blondine kutschierte; es war eine bekannte Kurtisane; hinter ihr saßen zwei Grooms. Duroy blieb stehen; er hatte Lust, ihr einen zustimmenden Liebesgruß zuzuwinken, ihr Beifall zu klatschen, dieser Freibeuterin der Liebe, die auf dieser Spazierfahrt und zu dieser Stunde mitten unter all diesen aristokratischen Heuchlern ihren frechen Luxus, den sie auf ihrem Lager verdiente, zur Schau zu stellen wagte. Er fühlte wohl unklar, daß es etwas Gemeinsames zwischen ihnen gäbe, daß ein natürliches Band sie verknüpfe, daß sie von derselben Natur und Denkart wären und daß sein Erfolg ebenso auffallend sich gestalten würde.
Er kehrte langsam zurück; sein Herz war von innerlicher Befriedigung erwärmt, und er kam etwas vor der festgesetzten Zeit an die Tür seiner früheren Geliebten.
Sie empfing ihn mit hingehaltenen Lippen, als ob es niemals ein Zerwürfnis zwischen ihnen gegeben habe, und sie