Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de MaupassantЧитать онлайн книгу.
schloß die Frau das Fenster. Dann lehnte sie die Stirn an die Scheibe und blickte in die Ferne.
Duroy fühlte sich unbehaglich. Er hätte dem Kranken ein paar tröstende Worte gesagt, um ihn zu beruhigen, aber ihm fiel nichts Passendes ein und er sagte nur:
»Es geht dir also nicht besser, seitdem du hier bist?«
Der andere zuckte verzweifelt und ungeduldig die Achseln:
»Du siehst ja doch!«
Und der Kopf sank ihm wieder auf die Brust.
Duroy fuhr fort:
»Es ist hier übrigens im Vergleich zu Paris einfach wunderbar. Da ist man noch mitten im Winter. Es schneit, hagelt, regnet, und es ist so dunkel, daß man um drei Uhr schon die Lampen anzünden muß.«
»Gibt es was Neues auf der Zeitung?« fragte Forestier.
»Nichts. Man hat als Ersatz für dich den kleinen Lacrin genommen, der vom ‘Voltaire’ kommt. Aber er kann nicht viel. Es ist höchste Zeit, daß. du wiederkommst.«
Der Kranke stammelte:
»Ich? Ich werde bald sechs Fuß unter der Erde Artikel schreiben.«
Immerzu kam ihm diese fixe Idee wie ein Glockenschlag wieder, sie tauchte in jedem Gedanken, in jedem Satze von neuem auf.
Es folgte nun ein langes, tiefes und schmerzliches Schweigen. Die feuerrote Glut des Sonnenunterganges erlosch nach und nach, und die Berge am Horizont wurden allmählich schwarz unter dem rötlichen Himmel, der immer dunkler wurde. Farbige Schatten, der Beginn der Nacht, über die noch die letzten Lichter des Sonnenscheines zuckten, drangen in das Zimmer und schienen die Wände, Bezüge, Möbel und alle Winkel mit einer aus Tinte und Purpur gemischten Farbe zu überziehen. Der Spiegel über dem Kamin, der den Horizont zurückstrahlte, glich einer blutigen Scheibe.
Frau Forestier rührte sich nicht. Sie stand noch immer mit dem Rücken zum Zimmer, das Gesicht gegen die Fensterscheibe gelehnt.
Forestier begann zu reden, mit abgerissener, keuchender, langsamer Stimme, die sich entsetzlich anhörte.
»Wieviel Sonnenuntergänge werde ich wohl noch erleben? … achtzehn … fünfzehn oder zwanzig … vielleicht auch dreißig, aber nicht mehr. Ihr habt Zeit, ihr andern … mit mir ist es vorbei … Und alles wird weitergehen … auch nach mir, als sei ich gar nicht fortgegangen.«
Ein paar Minuten blieb er still, dann sprach er weiter:
»Alles, was ich sehe, mahnt mich daran, daß ich es in wenigen Tagen nicht mehr sehen werde … Es ist entsetzlich … Ich werde nichts mehr sehen … nichts von dem, was da ist … nicht die kleinsten Dinge, die man in die Hand nehmen kann … die Gläser, die Teller … die Betten, in denen man so angenehm ruht … die Wagen. Es ist doch so schön, im Wagen abends spazieren zu fahren! … Wie liebte ich das alles.«
Er machte mit den Fingern beider Hände leichte, nervöse Bewegungen, als ob er auf den Armlehnen seines Sessels Klavier spielte. Und jedes Schweigen, das seinen Worten folgte, war noch furchtbarer; man spürte deutlich, daß er währenddessen an die entsetzlichsten Dinge dachte.
Duroy mußte plötzlich daran denken, was ihm Norbert de Varenne vor wenigen Wochen gesagt hatte:
»Ich sehe jetzt oft den Tod so nahe vor mir, daß ich die Arme ausstrecken will, um ihn zurückzustoßen. Ich entdecke ihn überall. Die kleinen Tierchen, die auf den Wegen zertreten werden, die fallenden Blätter, das weiße Haar im Bart eines Freundes, alles zerreißt mir das Herz und ruft mir zu: »Da ist er!«
Damals hatte er ihn nicht verstanden, jetzt, wo er Forestier sah, verstand er alles. Und eine ihm noch unbekannte, qualvolle Angst erfaßte ihn, als sähe er dort vor sich auf dem Lehnstuhl, wo der keuchende Mann saß, die abscheuliche Gestalt des Todes. Er hatte Lust, aufzustehen, fortzulaufen, um sich zu retten und schleunigst nach Paris zurückzukehren. Oh, wenn er das geahnt hätte, er wäre nicht gekommen!
Die Nacht erfüllte nun das ganze Zimmer, wie eine vorzeitige Trauer für den Todgeweihten. Nur das Fenster blieb noch sichtbar und zeichnete in seinem etwas helleren Viereck den unbeweglichen Schattenumriß der jungen Frau.
Forestier fragte gereizt:
»Nun, wird heute keine Lampe gebracht? Das nennt man einen Kranken pflegen.«
Der Schatten des Körpers verschwand vom Fenster und der laute Ton einer elektrischen Klingel klang durch das Haus.
Alsbald erschien der Diener und stellte eine Lampe auf den Kamin.
Frau Forestier fragte ihren Mann:
»Willst du zu Bett gehen oder kommst du zum Essen hinunter?«
»Ich gehe hinunter«, murmelte er.
Sie mußten fast eine ganze Stunde bis zum Beginn des Essens warten und blieben alle drei unbeweglich sitzen. Sie sprachen nur hin und wieder irgendein gleichgültiges, banales Wort, als brächte es eine schauderhafte Gefahr, wenn das Schweigen zu lange dauerte, damit nicht die stumme Luft, in der der Tod schon lauerte, erstarrte. Schließlich meldete der Diener, daß es angerichtet sei. Das Essen kam Duroy entsetzlich lang vor. Sie sprachen kein Wort, aßen lautlos und zerkrümelten während der Pausen das Brot. Auch der Diener kam und ging, ohne daß man seine Schritte hörte, da Charles das Knarren der Stiefelsohlen nicht vertragen konnte und der Mann deshalb Filzpantoffel trug. Nur das Ticktack der hölzernen Wanduhr unterbrach mit regelmäßigem, mechanischem Ton die schweigende Ruhe.
Sobald das Essen zu Ende war, begab sich Duroy, unter dem Vorwand, müde zu sein, in sein Zimmer und schaute, gelehnt an das Fensterbrett, den Vollmond an, der wie ein riesiger Lampion mitten am Himmel stand, seinen hellen Schein auf die weißen Wände der Häuser warf und sein sanftes Licht wie Silberflitter über das Meer streute. Duroy suchte nach einem Ausweg, der ihm eine möglichst schnelle Abreise gestattete. Er erfand Listen; er dachte an ein Telegramm, das er sich schicken lassen wollte, eine Rückberufung durch Herrn Walter.
Als er am nächsten Morgen erwachte, schienen ihm alle seine Fluchtpläne sehr schwer zu verwirklichen. Frau Forestier ließ sich sicherlich nicht durch seine Vorwände hinters Licht führen, und durch seine Feigheit würde er alles wieder verderben, was er durch seine Ergebenheit gewinnen könnte. Er sagte sich: »Ja, es ist halt langweilig; aber das läßt sich nicht ändern, es gibt nun einmal im Leben unangenehme Zeiten. Und hoffentlich dauert die Geschichte nicht allzu lange.«
Der Himmel war blau, von jenem tiefen, südlichen Blau, das das Herz bei seinem Anblick mit Freude erfüllt. Duroy ging zum Meer hinunter, in der Meinung, daß es früh genug wäre, mit Forestier am Tage zusammen zu sein.
Als er zum Frühstück zurückkam, sagte der Diener:
»Herr Forestier hat schon zwei-, dreimal nach dem gnädigen Herrn gefragt. Vielleicht möchte der Herr zu Herrn Forestier hinaufgehen …«
Er ging hinauf. Forestier schien in einem Sessel zu schlafen. Seine Frau lag ausgestreckt auf dem Sofa und las.
Der Kranke hob den Kopf. Duroy fragte:
»Nun, wie geht es dir? Du siehst heute früh ganz munter aus.«
»Ja, es geht besser, ich fühle mich kräftiger«, murmelte der andere. »Frühstücke schnell mit Madeleine, dann wollen wir eine Wagenfahrt machen.«
Sobald die junge Frau mit Duroy allein war, sagte sie zu ihm:
»Sehen Sie, heute fühlt er sich gerettet. Seit dem frühen Morgen trägt er sich mit allerlei Plänen. Wir fahren nachher nach dem Golf Juan, um Fayencen für unsere Wohnung in Paris einzukaufen. Er will mit aller Gewalt hinaus, aber ich habe eine Todesangst, daß ihm etwas passiert, er kann das Stoßen des Wagens nicht vertragen.«
Als der Landauer vorgefahren war, stieg Forestier Schritt für Schritt die Treppe hinunter, gestützt von seinem Diener. Sobald er aber den Wagen erblickte, wollte er, daß das Verdeck zurückgeschlagen würde.
Seine Frau widersprach ihm:
»Du wirst dich