Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer. Arthur SchopenhauerЧитать онлайн книгу.
nie über die Erscheinung hinauskönnen.
§ 23
Der Wille als Ding an sich ist von seiner Erscheinung gänzlich verschieden und völlig frei von allen Formen derselben, in welche er eben erst eingeht, indem er erscheint, die daher nur seine Objektität betreffen, ihm selbst fremd sind. Schon die allgemeinste Form aller Vorstellung, die des Objekts für ein Subjekt, trifft ihn nicht; noch weniger die dieser untergeordneten, welche insgesammt ihren gemeinschaftlichen Ausdruck im Satz vom Grunde haben, wohin bekanntlich auch Zeit und Raum gehören, und folglich auch die durch diese allein bestehende und möglich gewordene Vielheit. In dieser letztern Hinsicht werde ich, mit einem aus der alten eigentlichen Scholastik entlehnten Ausdruck, Zeit und Raum das principium individuationis nennen, welches ich ein für alle Mal zu merken bitte. Denn Zeit und Raum allein sind es, mittelst welcher das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche und Eine doch als verschieden, als Vielheit neben und nach einander erscheint: sie sind folglich das principium individuationis, der Gegenstand so vieler Grübeleien und Streitigkeiten der Scholastiker, welche man im Suarez (Disp5, sect.3) beisammen findet. – Der Wille als Ding an sich liegt, dem Gesagten zufolge, außerhalb des Gebietes des Satzes vom Grund in allen seinen Gestaltungen, und ist folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinungen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist: er ist ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit und Raum unzählig sind: er selbst ist Einer: jedoch nicht wie ein Objekt Eines ist, dessen Einheit nur im Gegensatz der möglichen Vielheit erkannt wird: noch auch wie ein Begriff Eins ist, der nur durch Abstraktion von der Vielheit entstanden ist: sondern er ist Eines als das, was außer Zeit und Raum, dem principio individuationis, d.i. der Möglichkeit der Vielheit, liegt. Erst wenn uns dieses alles durch die folgende Betrachtung der Erscheinungen und verschiedenen Manifestationen des Willens völlig deutlich geworden seyn wird, werden wir den Sinn der Kantischen Lehre völlig verstehn, daß Zeit, Raum und Kausalität nicht dem Dinge an sich zukommen, sondern nur Formen des Erkennens sind.
Die Grundlosigkeit des Willens hat man auch wirklich da erkannt, wo er sich am deutlichsten manifestirt, als Wille des Menschen, und diesen frei, unabhängig genannt. Sogleich hat man aber auch, über die Grundlosigkeit des Willens selbst, die Nothwendigkeit, der seine Erscheinung überall unterworfen ist, übersehn, und die Thaten für frei erklärt, was sie nicht sind, da jede einzelne Handlung aus der Wirkung des Motivs auf den Charakter mit strenger Nothwendigkeit folgt. Alle Nothwendigkeit ist, wie schon gesagt, Verhältniß der Folge zum Grunde und durchaus nichts weiter. Der Satz vom Grunde ist allgemeine Form aller Erscheinung, und der Mensch in seinem Thun muß, wie jede andere Erscheinung, ihm unterworfen seyn. Weil aber im Selbstbewußtseyn der Wille unmittelbar und an sich erkannt wird, so liegt auch in diesem Bewußtseyn das der Freiheit. Allein es wird übersehn, daß das Individuum, die Person, nicht Wille als Ding an sich, sondern schon Erscheinung des Willens ist, als solche schon determinirt und in die Form der Erscheinung, den Satz vom Grund, eingegangen. Daher kommt die wunderliche Thatsache, daß Jeder sich a priori für ganz frei, auch in seinen einzelnen Handlungen, hält und meint, er könne jeden Augenblick einen andern Lebenswandel anfangen, welches hieße ein Anderer werden. Allein a posteriori, durch die Erfahrung, findet er zu seinem Erstaunen, daß er nicht frei ist, sondern der Nothwendigkeit unterworfen, daß er, aller Vorsätze und Reflexionen ungeachtet, sein Thun nicht ändert, und vom Anfang seines Lebens bis zum Ende den selben von ihm selbst mißbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle bis zu Ende spielen muß. Ich kann diese Betrachtung hier nicht weiter ausführen, da sie als ethisch an eine andere Stelle die ser Schrift gehört. Hier wünsche ich inzwischen nur darauf hinzuweisen, daß die Erscheinung des an sich grundlosen Willens doch als solche dem Gesetz der Nothwendigkeit, d.i. dem Satz vom Grunde, unterworfen ist; damit wir an der Nothwendigkeit, mit welcher die Erscheinungen der Natur erfolgen, keinen Anstoß nehmen, in ihnen die Manifestationen des Willens zu erkennen.
Man hat bisher für Erscheinungen des Willens nur diejenigen Veränderungen angesehn, die keinen andern Grund, als ein Motiv, d.h. eine Vorstellung haben; daher man in der Natur allein dem Menschen und allenfalls den Thieren einen Willen beilegte; weil das Erkennen, das Vorstellen, allerdings, wie ich an einem andern Orte schon erwähnt habe, der ächte und ausschließende Charakter der Thierheit ist. Allein daß der Wille auch da wirkt, wo keine Erkenntniß ihn leitet, sehn wir zu allernächst an dem Instinkt und den Kunsttrieben der Thiere35. Daß sie Vorstellungen und Erkenntniß haben, kommt hier gar nicht in Betracht, da der Zweck, zu dem sie gerade so hinwirken, als wäre er ein erkanntes Motiv, von ihnen ganz unerkannt bleibt; daher ihr Handeln hier ohne Motiv geschieht, nicht von der Vorstellung geleitet ist und uns zuerst und am deutlichsten zeigt, wie der Wille auch ohne alle Erkenntniß thätig ist. Der einjährige Vogel hat keine Vorstellung von den Eiern, für die er ein Nest baut; die junge Spinne nicht von dem Raube, zu dem sie ein Netz wirkt; noch der Ameisenlöwe von der Ameise, der er zum ersten Male eine Grube gräbt; die Larve des Hirschschröters beißt das Loch im Holze, wo sie ihre Verwandelung bestehn will, noch ein Mal so groß, wenn sie ein männlicher, als wenn sie ein weiblicher Käfer werden will, im ersten Fall um Platz für Hörner zu haben, von denen sie nochkeine Vorstellung hat. In solchem Thun dieser Thiere ist doch offenbar, wie in ihrem übrigen Thun, der Wille thätig; aber er ist in blinder Thätigkeit, die zwar von Erkenntniß begleitet, aber nicht von ihr geleitet ist. Haben wir nun ein Mal die Einsicht erlangt, daß Vorstellung als Motiv keine nothwendige und wesentliche Bedingung der Thätigkeit des Willens ist; so werden wir das Wirken des Willens nun auch leichter in Fällen wiedererkennen, wo es weniger augenfällig ist, und dann z.B. so wenig das Haus der Schnecke einem ihr selbst fremden, aber von Erkenntniß geleiteten Willen zuschreiben, als das Haus, welches wir selbst bauen, durch einen andern Willen als unsern eigenen ins Daseyn tritt; sondern wir werden beide Häuser für Werke des in beiden Erscheinungen sich objektivirenden Willens erkennen, der in uns nach Motiven, in der Schnecke aber noch blind, als nach außen gerichteter Bildungstrieb wirkt. Auch in uns wirkt der selbe Wille vielfach blind: in allen den Funktionen unsers Leibes, welche keine Erkenntniß leitet, in allen seinen vitalen und vegetativen Processen, Verdauung, Blutumlauf, Sekretion, Wachsthum, Reproduktion, Nicht nur die Aktionen des Leibes, sondern er selbst ganz und gar ist, wie oben nachgewiesen, Erscheinung des Willens, objektivirter Wille, konkreter Wille: alles was in ihm vorgeht, muß daher durch Wille vorgehn, obwohl hier dieser Wille nicht von Erkenntniß geleitet ist, nicht nach Motiven sich bestimmt, sondern, blind wirkend, nach Ursachen, die in diesem Fall Reize heißen.
Ich nenne nämlich Ursache, im engsten Sinne des Worts, denjenigen Zustand der Materie, der, indem er einen andern mit Nothwendigkeit herbeiführt, selbst eine eben so große Veränderung erleidet, wie die ist, welche er verursacht, welches durch die Regel »Wirkung und Gegenwirkung sind sich gleich« ausgedrückt wird. Ferner wächst, bei der eigentlichen Ursache, die Wirkung genau in eben dem Verhältniß wie die Ursache, die Gegenwirkung also wieder auch; so daß, wenn ein Mal die Wirkungsart bekannt ist, aus dem Grade der Intensität der Ursache der Grad der Wirkung sich messen und berechnen läßt, und so auch umgekehrt. Solche eigentlich sogenannte Ursachen wirken in allen Erscheinungen des Mechanismus, Chemismus u.s.w., kurz, bei allen Veränderungen unorganischer Körper. Ich nenne dagegen Reiz diejenige Ursache, die selbst keine ihrer Wirkung angemessene Gegenwirkung erleidet, und deren Intensität durchaus nicht dem Grade nach parallel geht mit der Intensität der Wirkung, welche daher nicht nach jener gemessen werden kann: vielmehr kann eine kleine Vermehrung des Reizes eine sehr große in der Wirkung veranlassen, oder auch umgekehrt die vorherige Wirkung ganz aufheben u.s.w. Dieser Art ist alle Wirkung auf organische Körper als solche: auf Reize also, nicht auf bloße Ursachen, gehn alle eigentlich organischen und vegetativen Veränderungen im thierischen Leibe vor. Der Reiz aber, wie überhaupt jede Ursache, und eben so das Motiv, bestimmt nie mehr, als den Eintrittspunkt der Aeußerung jeder Kraft in Zeit und Raum, nicht das innere Wesen der sich äußernden Kraft selbst, welches wir, unserer vorhergegangenen Ableitung gemäß, für Wille erkennen, dem wir daher sowohl die bewußtlosen, als die bewußten Veränderungen des Leibes