Inseldämmerung. Bent OhleЧитать онлайн книгу.
wieder auf den Bildschirm. »Ihr tauscht die Partner. Du bekommst Simon. Der Kleine kann jemanden wie dich an seiner Seite vertragen. Was du zu viel hast, hat er zu wenig.«
Er schlug laut auf die Enter-Taste, und damit war es besiegelt.
»Soll ich die Polizei wegen des Spinds kommen lassen? Falls doch was fehlt?«
»Ach, war eh kaum was drin von Wert.« Till sah immer noch so missgelaunt aus wie zuvor. »Aber danke.«
Sein Chef nickte überrascht. Draußen bewegte sich etwas und zog seine Aufmerksamkeit auf sich.
»Da kommt er ja. Sag’s ihm gleich selbst«, meinte er mit einem Fingerzeig auf Simon, der soeben die Eingangstür aufzog.
Till grinste, stöhnte, als er sich in Bewegung setzte, was wie ein Grunzen klang, und verließ das Büro.
Hamburg-Wandsbek, Wandsbeker Chaussee, 16:59 Uhr
Brockhaus betrat seine neue Wohnung. Ein Zimmer, einunddreißig Quadratmeter, Küche, Bad, nicht möbliert. Strom hatte er bereits angemeldet, sodass er nicht im Dunkeln sitzen musste. Till hatte ihm ein paar der nötigsten Sachen besorgt und in einer Garage in der Nähe deponiert. Brockhaus sah sich um. Graues Licht fiel durch die verschmutzten Fenster. Der Teppich sah recht neu aus, wies aber schon einige größere Flecke auf. Die Wände waren mehr schlecht als recht gestrichen. Er lächelte. Lange würde er diese Bude nicht ertragen müssen. Sie war nur ein kurzer Stopp auf seiner Reise in ein besseres Leben.
Der Garagenhof lag versteckt in einem abgelegenen Wohngebiet, in dem sich das Straßenpflaster schon überall aufwellte. Unkraut wuchs zwischen den Steinplatten, Müll lag in den Ecken des Hofs, und die Garagentore waren von Rost und Grünspan befallen. Brockhaus öffnete die Nummer elf, in der sich nur ein einziger schmutziger Rucksack und ein altes Mountainbike befanden. Auf dem Rückweg hielt er an einem Supermarkt an und scannte die Straße, ob er vielleicht ein paar zivile Beamte sah, die ihn verfolgten. Doch zu seiner Überraschung schien er unbewacht zu sein. Er kaufte sich etwas Wasser, Fertigsuppen, Cornflakes und Milch und legte zu guter Letzt ein einzelnes Bier in den Wagen, zum Feiern, dass er wieder in Freiheit war. Mehr wollte er sich nicht erlauben, um nicht müde und träge zu werden.
Mit zwei vollen Tüten am Lenker fuhr er langsam zu seiner neuen Wohnung, wobei ihm ein dunkelblauer Passat auffiel, in dem zwei Männer saßen. Einer von ihnen trank aus einem Kaffeebecher, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. Zivilbullen, dachte er und grinste innerlich. Fröhlich pfeifend lenkte er das Rad an ihnen vorbei und freute sich auf den heutigen Abend ohne Mauern und Stacheldraht um ihn herum.
Da er die Gegend hier noch nicht kannte, schaute er sich neugierig um und beobachtete alles in seiner näheren Umgebung. Sechs Jahre hatte er eingesessen, er konnte sich gar nicht sattsehen an all dem Leben um ihn herum, die Menschen auf der Straße und im Park, die Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern, Werbetafeln, Schaufenster, Imbissbuden, Restaurants. Das alles hatte der Knast ihm genommen und noch viel mehr. An einem eingezäunten Bolzplatz hielt er an. Die Zivilstreife war mit Sicherheit immer noch irgendwo hinter ihm, aber das interessierte ihn nicht. Er sah den Jungs zu, wie sie mit einem zerfledderten Ball im Halbdunkel Fußball spielten, lachten und sich anschrien und schubsten. Einer lehnte nur am Zaun und spielte etwas auf seinem Handy. Ihre Jacken hatten sie achtlos auf den Boden geschmissen. Ein dunkelhaariger Junge tunnelte gerade seinen Gegenspieler, und alle jaulten auf vor Begeisterung. So ähnlich hatte er sich früher auch bewegt. Die Armhaltung, die Art, wie er die Füße ein wenig nach innen aufsetzte, erinnerten ihn an sich selbst.
Brockhaus stieg ab, stellte das Fahrrad an den Zaun und ging näher heran. Er krallte seine Finger in die Maschen und konnte seinen Blick nicht von dem Jungen lösen. Konnte das sein? Der Junge machte einen Übersteiger und drehte abrupt um, sodass Brockhaus sein Gesicht sehen konnte. Ihm blieb fast das Herz stehen. Der Junge sah aus wie eine Kopie seiner selbst. Mit vierzehn, fünfzehn hatte er genauso ausgesehen. Seine Finger schmerzten, sie hatten sich immer fester in die Maschen gekrallt, und er löste sie jetzt so schnell, als wären sie glühend heiß.
Aber konnte das tatsächlich sein? Es war Jahre her. Er hatte ihn nur zweimal gesehen. Das letzte Mal, als der Junge acht oder neun gewesen war. Damals war Brockhaus nach einer Sauftour zu Fuß am Haus von Doreen vorbeigegangen. Sie hatte einen verdammten Versicherungsmakler geheiratet. Im Schutz der Dunkelheit war er in ihren Garten geschlichen und hatte sie beim Frühstück beobachtet. Der Kleine hatte im Schlafanzug am Tisch gesessen und Cornflakes gegessen. Brockhaus musste an die Packung denken, die er eben im Supermarkt gekauft hatte, und schluckte.
»Mein Gott«, flüsterte er und ließ den Kopf hängen. Hinter dem Zaun spielte sein Sohn Fußball. Und er, frisch aus dem Knast entlassen und von einem beschissenen Zufall hierher befördert, sah ihm dabei zu. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Der Junge hatte keine Ahnung, wer er war oder dass es ihn überhaupt gab.
Der andere Junge, der am Handy spielte, blickte zu Brockhaus herüber. Sein Mund stand offen, und seine Augen bewegten sich langsam in Richtung des Jungen auf dem Feld. Ihm musste die Ähnlichkeit aufgefallen sein.
Brockhaus riss sein Fahrrad an sich und schwang sich auf den Sattel. Hart trat er in die Pedale, blickte sich aber über seine Schulter hinweg noch einmal um.
Als er endlich an seiner Wohnung angekommen war, wünschte er sich, er hätte mehr Alkohol besorgt.
Amrum, Nebeler Strand, 16:59 Uhr
Nils, Elke und Anna waren auf dem Rückweg, da die Dunkelheit bald einbrechen würde. Die Sonne war hinter einem dunkelblauen Band aus Wolken untergegangen und beleuchtete sie von unten, sodass sie zu glimmen schienen. Bald hatten sie die Höhe des Strandabgangs erreicht, waren aber immer noch weit draußen im Watt unterwegs. Elke bückte sich und sammelte einige Muschelschalen auf, eine Angewohnheit, die sie nicht ablegen konnte, auch wenn sie seit ihrer Geburt hier lebte. Überall im Haus lagen die Muscheln als Deko herum. Anna nahm die Hand ihres Vaters. Nils sah sie überrascht an und lächelte. Sie erwiderte das Lächeln und blickte dann wieder in die Ferne.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er sie leise, so leise, dass er vermutete, sie habe ihn wahrscheinlich gar nicht gehört.
»Ja«, sagte sie. »Manchmal träume ich noch davon. Aber es ist alles gut jetzt.«
Nils drückte ihre Hand fester.
Auf Annas Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab.
Nils wollte gerade nachfragen, als Anna in Richtung des Wassers nickte.
»Was ist das?«
Er suchte den Wassersaum ab, konnte aber nichts entdecken.
»Ist das ein Heuler?«
Jetzt erkannte Nils einen dunklen, länglichen Körper im flachen Wasser. Augenblicklich wurde er wieder an den Tag erinnert, an dem er im See bei Wittdün eine tote Frau gefunden hatte, und er zuckte reflexhaft.
»Ist vielleicht ein wenig zu schlank für einen Heuler«, entgegnete er. Nun starrte auch Elke angestrengt auf das den Himmel spiegelnde Wasser und den dunklen Schatten darin. Nils spürte ihre Hand an seinem Arm, als er einen energischen Schritt nach vorn machte, so als wollte sie ihn zurückhalten. Auch sie dachte an das, was vor fünf Jahren passiert war.
»Nein, ich glaub, das ist ein Schweinswal«, murmelte er. Sie gingen noch einige Meter, bis ihre Stiefel die Wasserkante berührten. Das Tier – oder was es auch war – lag zwanzig Meter weiter draußen im flachen Wasser.
»Ja, ist ein Schweinswal«, erklärte Nils.
»Ist er schon tot?«, fragte Anna.
»Das werd ich rausfinden.«
Nils begann seine Schuhe und Strümpfe auszuziehen und krempelte seine Hosenbeine hoch, stopfte seine Strümpfe in die Schuhe und trat platschend ins Wasser. Er zog die Schultern hoch, als die Kälte seine Füße packte. Forsch marschierte er auf den Körper zu und erkannte bald die schlanke Rückenflosse und das Luftloch auf dem Kopf des Wals. Die Augen waren offen und noch intakt. Oft, wenn die kleinen Schweinswale hier verendeten, fraßen die Möwen zuerst