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Der Moloch. Jakob WassermannЧитать онлайн книгу.

Der Moloch - Jakob Wassermann


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Namen, bemerkte aber zugleich, dass diese gesellschaftliche Form hier nicht angebracht war. Arnold sah verwundert zu ihm empor, denn ein so langer und magerer Mensch war ihm noch nicht vorgekommen. Hanka, nicht weniger verwundert, fing an zu lachen, geriet jedoch in Verlegenheit, als er den Fremden ohne Verlegenheit sah. Arnold erhob sich, und als er das fragende, fast zu einer fragenden Grimasse verzogene Sesicht Hankas ansah, begriff er, dass es sich um seinen Namen handelte, nannte ihn also und fügte hinzu, dass er eine Bestellung von dem Lehrer Specht auszurichten habe, der gestern abgereist sei.

      Hanka erinnerte sich an Arnolds Namen wohl. So gleichgültig er damals auf Beates und Spechts Erzählung gelauscht hatte, etwas war in seinem Bewusstsein geblieben. Hanka hatte Vergnügen an diesem offenen, derben, gebräunten Gesicht, an der kräftigen, trockenen Stirn, die unbeweglich zwischen klar-grauen Augen und braunen glatten Haaren lag, an der gutgebauten Gestalt, die nichts von Verfettung und Krankhaftigkeit zeigte.

      Vierzehntes Kapitel

      Hanka fragte, und Arnold gab gehorsam Antwort. Hanka befremdete ihn. Sein natürlicher Scharfblick erfasste sofort die merkwürdige Mischung von Gutmütigkeit und Trauer, von Ironie und Langeweile in dessen Wesen. „Welche Beschäftigung haben Sie denn?“ fragte er.

      „Keine,“ versetzte Hanka, „ich tue nichts.“

      „Gar nichts?“

      „Ich betrachte.“ Hanka hatte seinen Stock in der Hand behalten und klopfte damit, weit vorgebeugt sitzend, auf den Boden.

      „Haben Sie denn nichts gelernt?“ fragte Arnold er staunt.

      Hanka lachte laut. „O ja“, antwortete er. „Ich habe die Juristerei erlernt, aber eben deshalb mach’ ich keinen Gebrauch davon.“

      Diese Antwort gab Arnold zu denken. Aber ehe er etwas dagegensagen konnte, kam Agnes ins Zimmer. Arnold richtete seinen Auftrag aus und schickte sich an zu gehen. Agnes war erfreut, ihn zu sehen, und dankbar für den Gruss des Lehrers. „Ein reizender Mann“, sagte sie von Specht. „Vielleicht kommen Sie, Herr Ansorge, nun recht oft zu uns.“ Sie sprach laut, schüttelte die Hand Arnolds, und ihre Augen strahlten mild. Arnold fühlte das beunruhigte Wesen von sich weichen, und Sympathie strömte auf ihn ein. Beate, die nach Agnes gekommen war, schnitt eine Fratze; als sie aber Hankas Blick auf sich ruhen fühlte, betrachtete sie Arnold mit wohlwollendem Lächeln.

      Arnold verabschiedete sich. Zu Hause angekommen, fand er auf dem Tisch ein katholisches Flugblatt über den Raub der Jüdin. Darin wurden öffentliche Ideale und der Name Gottes angerufen, aber die Wahrheit stand dabei und steckte die Hände in die Taschen. Arnold überlief es heiss und kalt. Seine Zuversicht begann zu schwinden. Darüber vergass er die Mutter, wie er denn ihre Krankheit nicht ernst nahm, und keine Furcht deswegen empfand, hauptsächlich, weil Frau Ansorge ohne Äusserung eines Schmerzes lag.

      Doch in der Nacht erwachte Arnold durch ein fortgesetztes tiefes Aufstöhnen. Mit Schrecken entdeckte er, von welchem Mund die Laute kamen. Da war es mit der Ruhe aus. Er bat den Doktor um Aufschluss. Es sei mit den Nieren nicht in Ordnung, erwiderte der Mann unsicher, und er halte es für gut, einen Spezialisten kommen zu lassen. Arnold ging mit sich zu Rate, schrieb und telegraphierte zugleich dem Oheim Borromeo, damit das Notwendige rasch geschehe. Als er die Depesche aufgegeben hatte, schritt er langsam den Hauptplatz hinunter, bis dahin, wo die Strasse gegen die Glassersche Wohnung abbog. Zu jeder Zeit des Tages und der Nacht, in jedem Augenblick des Besinnens sah er dort Menschen um ihr Recht kämpfen, und sein ganzes Wesen lechzte nach Entscheidung.

      An der Ecke des Platzes stand Uravar. Trotz der Kälte waren seine Ärmel hoch aufgestreift. Mit bedeutsamem Grinsen starrte er Arnold an und verfolgte ihn mit den stets wie in Trunkenheit glänzenden Augen.

      In dem Häuschen des Juden herrschte vollkommene Stille. Die Tür nach dem Wohnzimmer war geschlossen. Arnold pochte, aber niemand antwortete. Er drückte auf die Klinke, öffnete, spähte durch den Spalt und sah einen Knaben an dem runden Tisch sitzen, den Kopf zwischen den Händen, in ein Buch vertieft. Er trat ein, der Knabe (der etwa dreizehn Jahre alt war, nach Jutta das älteste Kind) blickte erschrocken empor, erkannte wohl Arnold von früher, getraute aber nicht, sich zu rühren. Arnold fragte, ob niemand zu Hause sei, und blieb an der Türe stehen, um den Knaben nicht einzuschüchtern. Niemand, erwiderte der Bursche, und die Augen in dem blatternarbigen Gesicht zeigten Trotz. Der Vater sei in der Stadt, fuhr er auf eine weitere Frage mit langsamem Tonfall fort, die Mutter gehe in Geschäften über Land, die andern Kinder seien beim Rabbiner in Lomnitz. „Wie heisst du?“ fragte Arnold. Moses, war die Antwort. Arnold näherte sich dem Tisch, blickte flüchtig in das Buch und nahm dem Knaben gegenüber auf einem Holzschemel Platz. „Und Jutta?“ fragte er mit heiserer Stimme. „Wird sie denn nicht wiederkommen?“

      „Der Herr fragt —!“ erwiderte Moses ironisch und mit dem Bestreben, ein gutes Deutsch zu sprechen. „Wiederkommen! Eher wird Wachs zu Eisen.“

      Arnold schaute den Knaben verblüfft an. Sonderbar war es ihm zumute, er fühlte sich schuldig. Langsam stand er auf und trat zum Fenster. Er hörte ein vielfältiges Gemurmel von draussen, öffnete den winzigen Flügel und sah oben an der Ecke zwanzig bis dreissig Menschen beisammenstehen. Gleichgültig schloss er das Fenster wieder und blickte nachdenklich auf den Knaben, der böse vor sich hinstarrte. Als er aus dem Haus trat, erblickte er am oberen Ausgang der Gasse noch immer die Ansammlung von Menschen; es schienen mehr als vorher zu sein, auch Weiber und Kinder hatten sich hinzugesellt, und ein verworrener Lärm herrschte. In der kurzen Gasse selber stand keiner, sondern diese war förmlich abgesperrt. In breiter Reihe warteten die Leute. Je näher Arnold kam, je mehr Sesichter wandten sich ihm durch gemeinsame Aufmerksamkeit zu, und endlich öffnete sich eine schmale Gasse, damit er hindurchgehen könne. Aber das sah mehr einer feindlichen Handlung als einer Höflichkeit ähnlich. Uravar stand in der Mitte eines Haufens gleich der Feder einer Uhr, welche, kaum wahrnehmbar, dennoch die Bewegung regelt. Arnold war weit entfernt zu denken, dass diese Zusammenrottung ihm gelten könne. Schweigen legte sich um die Masse. Blöde, neugierige, tückische Gesichter stierten ihn an, und unwillkürlich blieb Arnold stehen. Vor ihm öffnete sich eine Art Bucht, in deren Mitte er den neuen Pfarrer gewahrte. Der geistliche Herr hatte die Arme verschränkt und den Kopf steif emporgerichtet. Es war ein mächtiger Kopf, gross wie der eines Ochsen, mit an der Seite abstehenden Haaren. Die grünen Pupillen hinter der Brille flackerten komisch aufgeregt. In dem Augenblick erhob sich eine dünne, scharfe Stimme gegen Arnold: „Judenknecht!“, und das Gemurmel fing wieder an, dunkler und gärender.

      Mit stummem Zorn Blickte Arnold um sich, furchtlos forschte er nach dem Rufer, und in seiner Nähe kuschten die Murmler. Ruhig setzte er dann seinen Weg fort, aber er fühlte sich stärker, und als ein Schauer durchrann ihn die Vorahnung von Kampf.

      Frau Ansorge verbrachte eine schlimme Nacht. Arnold, der um neun Uhr das Lager aufgesucht hatte, fuhr um Mitternacht aus dem Schlaf und wachte bis zum Morgen an Ursulas Seite. Die Kranke sprach nicht; wenn sie die Augen aufschlug, lächelte sie gezwungen; dann kamen Stunden, in denen sie unaufhörlich stöhnte und sich auf der niedrigen Matratze wälzte. Ursula murmelte Gebete aus einem Buch, Arnold sass mit gesenktem Kopf, die Augen bald gegen das Licht, bald gegen die Finsternis gewandt. Gegen zehn Uhr morgens kam der Doktor, um den Arzt aus Wien zu erwarten, der mit dem Frühschnellzug eintreffen musste. Von der Station aus war noch ein tüchtiges Stück Weg, aber schon kurz nach elf kam eine Landkutsche mit zwei Insassen angefahren. Arnold trat in den Hof, die Herren zu begrüssen. Den Bruder der Mutter erkannte er sofort, obwohl er ihn seit den Kinderjahren nicht gesehen hatte. Borromeo reichte seinem Neffen die Hand, betrachtete ihn mit einem kühl-kritischen Blick, stellte den Arzt vor, einen eleganten, noch jungen Mann, und alle drei gingen zum Krankenbett. Frau Ansorge hatte kaum ihren Bruder und den Fremden erblickt, so schien es, als schüttle sie Fieber und Fieberbilder mit gewaltiger Anstrengung von sich ab. Ihre Erinnerung erhielt hundert Brücken. Als sie Friedrich zum letztenmal gesehen hatte, war all ihr früheres Leben und Fühlen ins Herz getroffen worden. Die dazwischenliegenden Jahre stürzten zusammen, und die Schmerzen, in denen sie jetzt gefangen war, verbanden sich mit jenen halbvergessenen.

      Die Begrüssung war kurz und ohne Worte. Doktor Borromeo winkte Arnold und Ursula, das Zimmer zu verlassen. Die beiden Ärzte blieben allein. Arnold führte


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